Mittwoch, 6. August 2008

In der Nacht gehen die Seelen zu Gott

Sure 6: Das Vieh

Immer wieder findet man im Koran auch solche Stellen, die aus ihrem Zusammenhang treten können und dann einzelne, schöne Gedanken bilden. In Sure 6 ist es der Vers 60:

Und Gott ist es, der eure Seelen in der Nacht abruft und weiß, was ihr am Tage begeht, an dem er euch dann wieder erweckt.

Meine Henning-Übersetzung von 1901 kommentiert in einer Fußnote: "In der Nacht gehen die Seelen zu Gott." Mir ist dieser Gedanke lieb und im Herzen verständlich. Ich habe den Schlaf in seinem Herausgelöstsein aus der Zeit oft als ein kleines Vorspiel der Ewigkeit zu erleben versucht.

Daß die Seelen in der Nacht offenbar an einen anderen Ort gehen oder zumindest sehr weit verreisen, hat Marcel Proust wunderbar auf den ersten Seiten von "Auf der Suche nach der verloren Zeit / In Swanns Welt" beschrieben. Er erzählt, wie er erwacht, ohne daß er sogleich erkennen kann, wo er ist. Verschiedene Erinnerungen und Vorstellungen kommen in ihm auf und vergehen wieder, er sagt: "wie nach der Seelenwanderung die Gedanken einer früheren Existenz".

Das Gedächtnis seines Körpers bietet Proust zur Wiedergewinnung der Orientierung "nacheinander eine Reihe von Zimmern, in denen er schon geschlafen hatte, an, während rings um ihn herum die Wände im Dunkel kreisten und ihren Platz je nach der Form des vorgestellten Raumes wechselten."

Später, in "Die Welt der Guermantes" wundert Proust sich bei einem ähnlichen Erwachen, "Wie bringt man es überhaupt fertig, wenn man dann seine Gedanken, seine Persönlichkeit wie einen verlorenen Gegenstand sucht, sein eigenes Ich und nicht statt dessen ein anderes wiederzufinden?"

Der Weg vom Gedanken der Sure zu Proust ist sicherlich ein wenig länger, aber ist er nicht trotzdem gangbar?


Zur Sure selbst ist zu sagen, daß ihr Titel nach "Kuh", "Haus", "Frau" und "Tisch" erneut einen Begriff aus dem alltäglichen Leben hat: das Vieh. Es soll - so der Themenvers 136 - nicht, wie die ungläubigen Polytheisten es fordern, in bestimmter, unsinniger Weise das eine mal Gott geweiht, und deshalb nicht eßbar, und das andere mal profan sein. Der Koran sagt dagegen recht frei (143) und liberal esset von dem, was euch Gott beschert. Das wenige, was verboten ist, Schweinefleisch etc., ist nichts im Vergelich mit dem, was anderswo (auch bei den Juden, denen "wir" es anders geboten haben) als unrein und deshalb zu meiden erklärt worden ist.

Eigenartig ist auch hier erneut, wie dicht im Koran Dinge nebeneinander liegen, die sich thematisch auf ganz unterschiedliche Gebiete beziehn. So gibt es an der Stelle mit den Vorschrifetn über das Vieh einen weiteren Vorwurf gegen die Polytheisten: in Vers 137 wird ihre üble Sitte angesprochen, neugeborene Kinder zu töten, aus vermutlich wirtschaftlichen Gründen, wie später* deutlich wird . Dieses Morden wird nun aber nur kurz erwähnt, dann geht es weiter (138) mit der Kritik an den unsinnigen Vorschriften zum Vieh. An denen reibt sich der Koran sehr viel stärker als an der Kindestötung.

Zu meinen Koranquellen ist zu sagen, daß die am Bildrand zitierte neuere Übersetzung von Rassoul offenbar die in Deutschland und im deutschen Internet am weitesten verbreitete ist. Sie wird von den offiziellen islamischen Stellen hierzulande offenbar bevorzugt. Die Orientalisten bemängeln bei Rassoul eine manchmal "beschönigende" Wortwahl. Mein alter Henning aus dem Reclam-Verlag mit seinen braunen Blättern, den ich vor Jahren in einem holländischen Antiquariat, erwarb, gilt nach wie vor als "sprachlich nahe am Original". Nur daß er "Weiber" statt "Frauen" schreibt, das wird ihm nicht verziehen.

Die Zählung der Verse ist von Übersetzung zu Übersetzung nicht immer gleich, wer also das eine oder andere anhand meiner Verszahlen nachliest, muß gelegentlich springen, manchmal einen oder zwei Verse vorwärts, ein anderes mal zurück.

* Vers 153

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