Dienstag, 19. April 2011

Der Koran, europäisch gelesen






(I) Ein herausfordernder Text

Angelika Neuwirth hat sich das Ziel gesetzt, den Koran als das zu zeigen, was er von Beginn an für seine frühesten Leser war: ein literarisch herausragender und intellektuell herausfordernder Text (Seite 21). Was sie dazu auf 768 Buchseiten und weiteren fast 100 Seiten Anhang zusammenträgt, ist ein so vielfältiges und facettenreiches Werk, dass man die intellektuelle Herausforderung fast überall in ihm verspürt. Was Frau Neuwirth außerdem zu den speziellen literarischen Eigenschaften des Korans schreibt und durch schöne, lebendige Übersetzungen (meist begleitet von Transliterationen des arabischen Originals) belegt, erweckt auch bei dem Leser Bewunderung, der das Arabische nicht oder nur aus der Ferne kennt.

Dabei bricht sie, wie sie allerdings erst auf der letzten Seite gesteht, ein Tabu: sie wendet die historisch-kritische Methode der modernen Wissenschaft auf den Koran an. Man sieht aber bald: sie macht ihn eigentlich erst dadurch für einen der Aufklärung verpflichteten Leser in weiten Teilen zugänglich. Die Autorin erzählt im Verlauf des Buches eine aus vielen Details zusammengesetzte Geschichte der Entstehung des Korans. Dabei greift sie, hier ist das Tabu teilweise aufgehoben, auch auf historische Erkenntnisse zurück, die in der innerislamischen Forschung anerkannt sind.

Auch der Islam kennt die historische Kritik oder zumindest den Teil daraus, der sich mit der Forschung nach dem Sitz im Leben eines Abschnittes aus dem heiligen Buch der Muslime beschäftigt. Eine ganze Reihe von Suren bezieht sich auf historische Ereignisse, wie etwa den Schlacht bei Badr (Q 3:123), und sind ohne die in den erklärenden Hadithen bewahrten Erläuterungen gar nicht zu verstehen. Auch die Aufteilung der Suren nach ihrer Entstehung in Mekka oder Medina, den Suren im Koran jeweils in ihrem Titel vorangestellt, gibt einen gewissen zeitlichen Rahmen vor.

Frau Neuwirth erweitert diesen Rahmen und benennt eine Vielzahl von Themen, welche in der jeweiligen Entstehungsperiode der jungen muslimischen Gemeinde auf der Tagesordnung standen und im Koran verhandelt wurden, wie sie das nennt. Auch gegen eine solche Betrachtungsweise wird es innerislamisch kaum Einwände geben, denn das Ringen des Propheten mit widerspenstigen Zuhörern, welche die meisten dieser Themen jeweils ganz anders verhandelt haben wollten, ist im Koran immer wieder geschildert.

Eine wichtige, und sicherlich kaum bestreitbare These von Frau Neuwirth ist, dass der Koran nicht aus einem ungeschichtlichen Nichts, sozusagen im leeren Raum der arabischen Wüste entstanden ist. Zwar haben die Muslime selbst den Begriff der djahiliya (Seite 208), der Unwissenheit vor dem Auftreten des Propheten, aber Frau Neuwirth legt recht überzeugend dar, dass vieles aus dieser Vorzeit, besonders das in Medina vorgefundene jüdische und christliche Erbe ein Vorwissen war, das nach entsprechenden Verhandlungen in veränderter Form Eingang in den Koran gefunden hat.

Auch für dieses Ringen mit dem Erbe aus Altem und Neuem Testament gibt es Belege im Koran selbst, wie etwa dem Hinweis auf eine Periode in Medina, in der die neue Gemeinde angehalten wurde, in Richtung Jerusalem zu beten.

Der Koran bewegt sich in sich selbst und hat bei Frau Neuwirth eine eigene Entstehungsgeschichte, an deren Ende erst das komplette, heilige Buch der Muslime steht als ein fait accompli, Hauptwort der Autorin für das, was sie mit ihren Untersuchungen immer wieder aufbrechen will.


(II) Göttliches Urwort, menschliche Rede

Die Vorstellung eines im Himmel verwahrten ewigen Buches, aus dem für die Menschen Offenbarung gewonnen wird, hat in der Zeit vor Mohammed in einer in der spätantiken Welt wohl überall bekannten Form vorgelegen: dem Jubiläenbuch der jüdischen Tradition (aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert). Die muslimische Tradition nimmt den Gedanken dieses ewigen Buches mit der Geschichte der Welt darin auf, hebt aber jetzt als Besonderheit hervor, dass diese jetzt neu durch den Koran erschlossene himmlische Schrift nun eine bewahrte Tafel (Q 85:22) ist, die - anders als die zerstörten Tafeln mit den Zehn Geboten darauf - auf ewig unzerstörbar im Himmel aufbewahrt wird.

An dieser Stelle ist die christliche Vorstellung offenbar falsch, wonach der Koran beansprucht, eine vollkommen identische Kopie dieser Tafel zu sein. Auch der Koran macht sich Gedanken darüber, wie es zuging, dass das Wort Fleisch ward, wie es im christlichen Verständnis heißt. Dass es im Koran mehrfach heißt, er sei in klarer arabischer Rede verfasst, sieht Frau Neuwirth als einen Beleg für eine Transformation des heiligen Urtextes an.

Auch die Muslime haben eine Vorstellung davon, dass Gott in einer eigenen, überlegenen Welt wohnt, zu welcher der Mensch keinen Zugang hat. Entsprechend müssen auch für sie die Gedanken Gottes übersetzt werden, wenn der Mensch sie verstehen soll.

Wenn Gott nun in einem nicht ganz leicht verständlichen Prozess sein Wort als Herabsendung (tanzil) zu den Menschen kommen lässt, dann reagiert er durchaus auf die menschlichen Eigenarten, baut dabei aber darauf auf, dass der Mensch durch seinen Verstand in der Lage ist, die Zeichen (ayat) Gottes zu lesen. Eigenartigerweise werden die Verse der einzelnen Suren ebenfalls ayat genannt, ein ganz eigenes Wort für einen Vers, welches sich (ebenso wie das Wort Sure) nicht als Fachwort in der arabischen Dichtung findet.

Frau Neuwirth verwendet große Anstrengungen darauf, den Koran als eine Sammlung ganz eigener Wortschöpfungen zu verstehen. Das gelingt ihr besonders da immer sehr gut, wo sie ihn mit biblischen Texten vergleicht und über die Art und Weise spricht, wie eine Gemeinde, jüdisch, christlich oder muslimisch mit diesen Texten umgeht. Sehr weiterführend finde ich ihren Vergleich mit den Perikopen der Kirche. Sie sind besonders ausgesuchte, für den Gottesdienstvortrag ausgesonderte Schwerpunktstellen der Bibel, Ausschnitte aus einem längeren Text. Für Frau Neuwirth ist der Koran durchgängig Perikope, also in seiner Gesamtheit gottesdienstlicher Text, damit konzentrierter als die erzählerisch viel freiere und auch entsprechend längere Bibel.

Dazu gehört, dass die Autorin ein besonderes Augenmerk auf den Gebrauch des Korans als Vorlage für die täglichen Gebete richtet. Der Zyklus von fünf vom frühen Morgen bis zum späten Abend über den Tag verteilten Gebeten (mit Vorbildern in den Mönchsregeln der alten Kirche) ist jeweils begleitet von Koranzitaten, die der Betende zuvor auswendig gelernt hat. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Tradition des vollständigen Auswendiglernens des Korans (die den Gläubigen zum Hafis macht) von Anfang an bezeugt ist, ja dass man wohl mit Fug und Recht sagen kann, der Koran sei lange Zeit ein von Mund zu Mund weiter gegebenes Vortragswerk, bevor er schriftlich kodifiziert wurde. Entsprechend wird das arabische Wort quran meist als Lesung oder Vortrag übersetzt. Das Wort Buch (kitab) beschreibt eher den im Himmel der Ideale vorliegenden Gottestext.

Es berührt eigenartig, dass der still über seiner Bibel sitzende und lesende Christ sowohl von seinem jüdischen als auch von seinem muslimischen Zeitgenossen ein wenig kritisch gesehen wird. Für beide ist ein äußerlich unbeteiligtes Studieren der heilige Texte nicht denkbar, der Jude spricht sie beim Lesen zumindest leise aus und bewegt beständig seinen Oberkörper dabei, der Muslim kennt sie kaum anders als in der gesungenen Form, vielfach auswendig gesagt, meist begleitet von den vorgeschriebenen Gebetsbewegungen. Gottes Wort will nicht wie die Zeitung gelesen werden, es soll uns bewegen.


(III) Alte Vorlagen, neue Worte

Für Frau Neuwirth besteht kein Zweifel daran, dass Mohammed und seine Zuhörer Texte aus dem Alten und dem Neuen Testament gekannt haben, vermutlich in vorwiegend mündlicher Tradition. An einer zentralen Stelle hört sie sogar heraus, dass die altarabische geprägte Hochsprache des Korans ein wenig aus den geraden Bahnen ihrer korrekten Grammatik heraustritt, um die beschworene Einheit oder Einsheit Gottes auch an das jüdische Zentralwort, das Schma Jisrael (Höre Israel) anzubinden. Auch in diesem Wort (5. Mose 6,4) wird gesagt, dass Gott Einer und nur Einer ist - adonai ahad. Im Arabischen müßte hier allahu wahid stehen (S. 73) aber die entsprechende Stelle im Koran (Q 112:1) sagt ebenfalls allahu ahad und stellt eine sprachliche Gleichheit her, die dann umso schärfer mit den anderen, abweichenden Aussagen kontrastiert wird.

So wird aus dem Befehl zum Hören (schma), der dem auserwählten Volk erteilt wird, ein Befehl an den Propheten zum Sprechen (qul), und zwar zum Sprechen an die ganze Welt. Und natürlich ist die Botschaft geändert: er zeugt nicht und wird nicht gezeugt (Q 112:3), eine Passage, die an das altkirchliche gezeugt, nicht geschaffen des Glaubensbekenntnisses von Nicäa anklingt, aber natürlich das genaue Gegenteil sagt.

Ausführlich beschreibt Frau Neuwirth die Übernahme von Psalm 104 durch Sure 78. Auch hier hat nach ihrer Ansicht der Prophet einen seinen Zuhörern bekannten Text bewusst so verändert, dass ihnen die radikale Neuigkeit von Mohammeds Predigt unmittelbar vor Augen gestellt wird. Selbst aus der Sure 1, die als Die Einleitende im Koran prominent verzeichnet ist und sowohl von ihrer Form als auch von ihrem Inhalt her eigentlich keine Sure ist (so dass der Koran erst mit der Sure 2 richtig beginnt), liest Frau Neuwirth unmittelbar eine Ähnlichkeit zu den liturgischen Formen der Kirche. Für sie wird aus Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes die ebenfalls aus einem Dreiklang bestehende Eingangsformel der Sure 1 Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen.

Man muss nicht alle diese von Frau Neuwirth herausgearbeiteten Parallelen als richtig angesehen, um am Ende zusammen mit ihr den Gesamteindruck zu gewinnen, dass auch das letzte Buch der drei Religionen des Buches mit einer neuen gestalterischen Kraft in Erscheinung tritt, die in ihrem Ausdruckswillen und in ihrem Bestreben, etwas Neues und Eigenes zu gestalten, mit den anderen Büchern auf gleicher Höhe steht.

Frau Neuwirth schildert eine Reihe von Umdeutungen, die der Koran in zentralen theologischen Fragen vornimmt. Ich erwähne hier nur das neue Verständnis von Opfer. Es ist verwunderlich, dass trotz der zentralen Funktion des muslimischen Opferfestes, das an die in letzter Minute verhinderte Opferung Isaaks (oder Ismaels, der Koran lässt beide Lesarten zu) durch Abraham erinnert, das Opfer selbst von jeglichem Sühnegedanken entkleidet ist und lediglich zum Erweis des Gehorsams erbracht wird. Diese eher nüchternen Betrachtung eines Tieropfers setzt die große muslimische Freiheit von der Erbsünde voraus, welche sich aus dem im Islam als sehr viel weniger dramatisch angesehenen Weggang Adams aus dem Paradies begründen lässt. Es gibt für sie keine tragische Verstrickung in Sünde und Schuld, wie sie von den Juden und Christen gesehen wird. Entsprechend ist die Erinnerung an das Opfer Abrahams ein eher rationaler Vorgang, ein Vorbild für praktischen Gehorsam, mehr nicht.


(IV) Alte Fragen, neue Antworten

Gegen Ende des Buches lenkt Frau Neuwirth die Aufmerksamkeit auf die Poesie des Korans. Sie kann auf eine stark gewachsene Literatur zur Poesie der arabischen Welt vor Mohammed zurückgreifen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten neu entstanden ist. Ein in dieser Dichtung häufig wiederkehrendes Motiv ist das Bild von der in Trümmern liegenden verlassenen Stadt und der damit verbundenen Melancholie. Wo sind sie hin, alle, die hier gelebt haben? Und wie überwindet der Betrachter dieser Vergänglichkeit seine Trauer, wie findet er zum Sinn des Lebens zurück?

Die alte arabische Dichtung fordert zur tatkräftigen Überwindung der Melancholie auf. Der traurige Betrachter soll zur bewohnten Siedlung seines Stammes zurückkehren und sich in mannhafter Weise den Kämpfen seiner Leute anschließen. Eigenartigerweise ist der Koran dieser Mannhaftigkeit gegenüber nicht unkritisch. Er geißelt an einigen Stellen die Prahlerei der vermeintlichen Helden und legt großen Wert darauf, seine eigene Sprache auf Distanz zur Sprache der Dichter zu halten, die solche Mannhaftigkeit in übertreibender Weise besingt.

Diese Distanz bringt allerdings ein neues Problem mit sich: der Koran soll eigentlich durch seine sprachliche Schönheit glänzen und muss sich also an den Dichtern messen lassen. Wenn später in einem klassischen Kommentar zum Koran rühmend gesagt wird, dass jeder Ausdruck an seinem Platz und im Einklang mit den anderen war (Seite 765), dann wird das Erlebnis einer nach dem Urteil der Zeitgenossen überwältigenden Rhetorik deutlich, welche in ihren Ohren den Koran ausgezeichnet hat.

Im neuntem Jahrhundert hat ein muslimischer Schriftsteller die bekannte Denkfigur niedergeschrieben, wonach Moses in einem Zeitalter der Zauberei von Gott mit der Fähigkeit ausgestattet wurde, selbst zu zaubern, während Jesus in einem Zeitalter der Heilkunst besondere Fähigkeiten als Wunderheiler hatte. In der Zeit Mohammeds habe es dann eine Blütezeit der Rhetorik gegeben, weshalb Gott ihm ermöglicht habe, den Koran sprachlich besonders schön auszugestalten.

Der Koran soll schon durch seine äußere Form bestechen. Aber er soll auch neue Deutungen geben, damit am Ende die Sinnfrage des melancholisch die Trümmer der Vergangenheit betrachtenden Beduinen aufgelöst werden kann in eine Antwort im Glauben und in der Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinde.

Was die Schönheit des Korans betrifft, so verweist Frau Neuwirth unter Anderem auf die Form der so genannten Klauseln. Sie sind Einschübe, Ausrufe, die in einen längeren Text eingefügt werden, um das Gewicht dieses Textes durch eine Dehnung für den Zuhörer noch deutlicher zu machen. Geprägt vom Koran gibt es auch in den Märchen von Tausendundeiner Nacht Passagen, welche diese koranische Technik der Klausel aufgreifen und perfektionieren. Eine dieser Stellen hat er deutsche Dichter Hugo von Hoffmannsthal in seiner Einleitung zu Tausendundeine Nacht wunderbar herausgehoben und damit indirekt auch der Poesie des Korans ein Denkmal gesetzt:

Da ist, um von tausend Seiten eine aufzuschlagen, in der Geschichte von Ali Schar und der treuen Zumurrud ein Augenblick, den ich nicht für irgendeine erhabene Stelle unserer ehrwürdigsten Bücher austauschen möchte. Und es ist fast nichts. Der Liebende will seine Geliebte befreien, die ein böser alter Geist gestohlen hat. Er hat das Haus ausgekundschaftet, er ist um Mitternacht unter dem Fenster, ein Zeichen ist verabredet, er soll es nur geben. Doch muss er noch eine kurze Fristen warten. Da überfällt ihn, so ungelegen als unwiderstehlich, als hätte das Geschick aus dem Dunkeln in lähmend angehaucht, ein bleierner Schlaf. "Doch da überfiel ihn die Schläfrigkeit", heißt es, "und er schlief ein - herrlich ist Er, der nimmer schläft!"




Dienstag, 14. Oktober 2008

Zum Abschluß

Sure 110: Die Hilfe
Sure 111: Verderben
Sure 112: Die Reinigung
Sure 113: Das Morgengrauen
Sure 114: Die Menschen

Am Ende des Korans stehen zwei Segenswünsche und entlassen den Leser wie durch die Säulenpfosten eines großen Ausgangstores hinaus in die Welt. Sie sind parallel gestaltet und beginnen jeweils mit dem Anruf Ich nehme meine Zuflucht.

Ich nehme meine Zuflucht zum Herrn des Morgengrauens.
Sure 113, Vers 1

Ich nehme meine Zuflucht zum Herrn der Menschen.
Sure 114, Vers 1

Der Schutz, unter den diese Segenswünsche den Menschen stellen, bezieht sich in Sure 113 zunächst allgemein auf das Übel dessen, das er erschaffen, dann auf das Übel der Nacht, und das Übel eines finsteren Zaubers, symbolisiert durch die Knotenbläserinnen. In der letzten Sure 114 wird Schutz vor dem Einflüsterer gesucht, dem Teufel, der böse Gedanken in die Herzen der Menschen einfließen läßt.

Mohammed, dem alle Wahrsagerei und Zauberei gerade so verhaßt waren, wie den Propheten der Bibel, hat es gestattet, daß man die beiden letzten Suren unter Handauflegung rezitiert, um Krankheiten zu heilen. Möglicherweise sind sie das letzte, was er in seinem irdischen Leben gehört hat, denn auch Aischa hat nach der Überlieferung die beiden Suren in ihre Hände hinein gesprochen und mit diesen Händen dann den sterbenden Leib des Propheten bestrichen.

Henning sagt, die beiden Suren würden auch als Amulette getragen, das ist gut vorstellbar. In jedem Fall bilden sie einen würdigen Abschluß dieses großen Buches und entlassen den Leser ähnlich einem Kirchenbesucher mit einer segnenden Schutzformel.

Der Christ ist allerdings, wenn er nicht ganz geduldig war, bereits drei Suren vor Schluß gewissermaßen durch eine Seitentür an die frische Luft entlassen worden. In der Sure 112 wird noch einmal kurz und bündig klargestellt, was Islam und Christentum trennt:

Sprich: Er ist der eine Gott
Der ewige Gott; er zeugt nicht
und wird nicht gezeugt,
und keiner ist ihm gleich.
(Sure 112)

Das macht den Unterschied deutlich, kurz und hart. Kein Sohn, kein Messias Jesus mit göttlichen Zügen. Die Kernaussage er zeugt nicht und wird nicht gezeugt lautet in meiner arabischen Transkription:

lam yalid wa lam yuladu

Der Konsonantenstamm Y-L-D, aus dem die beiden Worte yalid und yuladu gebildet sind, steht auch im Hebräischen für erzeugen und gebären. Und so klingt eines der Gegenstücke der Bibel, die in ihrer Aussage genau entgegengesetzte Messias-Prophezeiung des Propheten Jesaja in Kapitel 9, Vers 5. ganz ähnlich:

ki yeled yuled l'anu

Wörtlich: denn ein Erzeugter ist gezeugt für uns. Luther übersetzt: ein Kind ist uns geboren. Der Vers fährt fort ein Sohn ist uns gegeben, ... und sein Name wird sein Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst. Ein Menschensohn mit göttlichen Attributen. Daran halten wir als Christen fest, das trennt uns vielleicht am stärksten von den Moslems.

Aber vielleicht können die beiden Sätze am Ende so stehenbleiben, ohne Bitterkeit zu hinterlassen - ein eigenartiger Gleichklang der Worte bei widersprüchlicher Gedanken. Und wenn es also frische Luft ist, in die der Christ am Ende des Lesens entlassen wird, dann ist es eine Luft, die er mit dem moslemischen Leser teilt und gemeinsam mit ihm einatmet. Beide wissen sie ja um das Übel dessen, was er erschaffen, beide kennen die Gefahren dieser Welt. Und beide wissen auch von einer Zuflucht.

Das könnte uns mehr zusammenbringen als daß es uns trennt. Und dann könnte es uns am Ende dazu anhalten, daß wir, wie es Sure 103 sagt, einander zur Wahrheit mahnen und zur Geduld.

Montag, 13. Oktober 2008

Ein falsch Gebet

Sure 105: Der Elefant
Sure 106: Quraisch
Sure 107: Der Beistand
Sure 108: Der Überfluß
Sure 109: Die Ungläubigen

Betende Menschen müssen sich oft dagegen verteidigen, daß sie aus falschen Motiven heraus ihre Gebete sprechen. Gerade diejenigen, die für das Gebet wenig erübrigen können, halten mit der Kritik an "falschen Gebeten" nicht hinter dem Berg - wie etwa in Deutschland die Jäger, zwischen deren Jagdtrophäen unzählige Male der Spruch aufgehängt ist Im stillen Wald ein Blick zum Himmel, ist besser als ein falsch Gebet.

Gegen das falsche Beten hat aber auch der Koran strenge Einwände.

Wehe den Betenden,
die nachlässig in ihren Gebeten sind,
die nur gesehen sein wollen
und den Beistand (die Almosen) versagen.
(Sure 107, Verse 4 bis 7)

Diese Einwände klingen ganz ähnlich wie das, was auch Jesus über das vortäuschende Beten gesagt hat, das Beten der Heuchler, die an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. (Matthäus-Evangelium, Kapitel 6, Vers 5). Wer beten will, soll in sein innerstes Gemach gehen, hat Jesus gelehrt, was Luther volkstümlich mit Kämmerlein übersetzt und damit die deutsche Eigenart begründet hat, das stille Kämmerlein als sprichwörtlichen Ort des Nachdenkens in Ehren zu halten.

Der Koran hat einen anderen Weg, das rechte und das falsche Gebet zu unterscheiden: ohne die praktische Zuwendung zum Mitmenschen - hier zu den auf Almosen angewiesenen Nächsten - wird ein Gebet verworfen und unter ein großes Wehe gestellt. Auch hierin ist der Koran der Bibel nahe, in der es heißt wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot (Jakobus-Brief, Kapitel 2, Vers 26).

Man kann hier lange darüber nachdenken, wie sehr dieser Jakobus-Vers die christlichen Kirchen getrennt hat - die Katholiken, die ihn lieben, und die Protestanten, die ihn nur zusammen mit anderen Versen über die Gerechtigkeit aus Glauben akzeptieren wollen. Man kann hier aber auch über alle Konfessions- und Relgionsgrenzen hinweg die Erwartung einer hilfsbedürftigen Welt sehen, daß die Frommen beten und handeln. Wenn sie es nicht tun, haben sie Koran und Bibel zum Zeugnis gegen sich.

Zur Wahrheit mahnen und zur Geduld

Sure 100: Die Renner
Sure 101: Die Pochende
Sure 102: Das Streben nach mehr
Sure 103: Der Nachmittag
Sure 104: Der Verleumder

Mit ihren drei Versen ist die Sure 103 Der Nachmittag die kürzeste Sure im Koran. Sie teilt diesen Rang zwar mit den ebenfalls dreiversigen Suren 108 und 110, nimmt aber trotzdem eine prominente Stelle ein, weil es unter den ersten Gefährten des Propheten wohl Sitte war, sich diese Sure beim Abschied zu sagen.

Bei dem Nachmittag!
Siehe der Mensch ist wahrlich verloren,
außer denen, welche glauben und das Rechte tun,
und einander zur Wahrheit mahnen und zur Geduld.


Andere Übersetzungen sagen Bei der vergehenden Zeit, das würde die Szene der zwei voneinander Abschied nehmenden Menschen noch deutlicher hervortreten lassen. Sie gehen mit dem Blick auf die sinkende Sonne auseinander. Dabei erinnern sie sich gemeinsam an einen weiten Weg, den die Sure mit ganz wenigen Worten beschreibt. Dieser Weg führt sie aus der Dunkelheit zum Licht – von der Vergänglichkeit der Zeit und der Verlorenheit des Menschen zum Trost des Glaubens und am Ende schließlich hin zu der Aufforderung, sich gegenseitig auf diesem Weg zu bestärken.

Sich gegenseitig zur Wahrheit zu ermahnen und zur Geduld, das könnte man als Aufgabe jeder Freundschaft ansehen, unabhängig davon, an was man glaubt. Wer alles drei kennt, Wahrheit und Geduld und dazu einen Freund, der mit gutem Rat den Weg zu beidem finden hilft, der wird eine Mitte halten können zwischen einer kalten und unduldsamen Wahrheitsbesessenheit und einer passiven, gleichgültigen Duldermentalität.

Ich bin sicher, daß wir in allen Religionen Menschen finden und bewundern können, die ihren Lebensweg auf einer solchen geraden Linie zwischen Wahrheit und Geduld gehen. Vielleicht ist es eine Aufgabe der Zukunft, nach solchen Menschen bewußt zu suchen und ihr Beispiel vielen zu zeigen. Nur so kann die Erkenntnis wachsen, daß glaubende Menschen nicht nach Radikalität streben. Sie streben nach Weisheit.

Iqra!

Sure 95: Die Feige
Sure 96: Das geronnene Blut
Sure 97: Die Macht
Sure 98: Der deutliche Beweis
Sure 99: Das Erdbeben

Das erste Wort der nach der Tradition ersten Sure des Korans, der Sure 96, lautet Iqra!, Lies! Mohammed soll nach der Überlieferung durch seine Frau Aischa diesen Befehl vom Erzengel Gabriel erhalten habe. Aischa hat später weitergegeben, daß Mohammed darauf geantwortet haben soll: ich kann nicht lesen. Mohammed war Analphabet.

Im Internet finden sich zu dem Wort iqra oder seinem Stamm qara die Spuren uralter Auseinandersetzungen zwischen Christen und Moslems. Wenn man das Wort eher als „Rezitiere!“ übersetzt, oder gar als „Preise!“, wie einige meinen, dann entfällt die Brücke zum Analphabetismus des Propheten und der Weg ist frei, ihm die Kenntnis früherer christlicher und jüdischer Schriften nachzuweisen, und damit möglicherweise ein Plagiat.

Ich kann mich an dieser Diskussion mangels solider Kenntnisse nicht beteiligen und will es auch nicht. Ich will statt dessen auf wörtliche Parallelen in der Bibel hinweisen, wo qara ebenfalls an prominenter Stelle vorkommt. Im Hebräishen ist die Bedeutung „rufen“, was natürlich auch gleichbedeutend sein könnte mit „laut lesen“, und damit also die traditionelle Interpretation des Korans bestätigen würde.

Beim Propheten Jesaja erscheint im berühmten Kapitel 40 im Vers 6 gleich zweimal ein Wort mit dem Stamm qara:

qol omer: qera!
wa amar: mah äqra?

Stimme eines Sprechenden: rufe!
Und einer sagt: was soll ich rufen?

Dies ist der Anfang von 40, Vers 6, es folgen als Antwort die häufig in Musik gesetzten gleichermaßen poetischen wie dunklen Worte Alles Fleisch ist wie Gras.

Auch ganz am Anfang der Bibel steht qara – hier ist es ein benennendes Rufen, ähnlich wie in älteren deutschen Texten: „ich werde Wilhelm gerufen“, also Wilhelm genannt. Mit diesem Rufen gibt Gott dem Licht und der Finsternis Namen. Den folgenden Text dürfte auch ein Araber ohne Probleme verstehen:

wa jiqra elohim la’ur yom,
we la’choschäch
qara lailah

wörtlich:

und es rief Gott zu dem Licht Tag,
und zu der Finsternis rief er Nacht.
(Genesis 1,5)

Das prophetische Rufen des Jesaja und das einen Namen vergebende Rufen vom Anfang der Bibel haben mit dem das Prophetenamt Mohammeds einleitende iqra! gemeinsam, daß über das Aussprechen neuer Worte etwas Neues in die Geschichte eintritt, das sich über die Kraft dieser Worte seinen Weg bahnt.

Ich würde Mohammed das nie streitig machen wollen, daß er mit einer großen Botschaft an die Welt versehen wurde, auch einer neuen Botschaft. Sie weicht in vielem von der Botschaft ab, die ich als Christ gehört habe, und die für mich die Botschaft meines Herzens ist. Aber es ist doch eine Macht darin, die mit einem iqra! zu Beginn angemessen angekündigt wird. Diese Macht will ich in gleichermaßen angemessener Weise respektieren.

Sonntag, 12. Oktober 2008

Einreden

Sure 90: Das Land
Sure 91: Die Sonne
Sure 92: Die Nacht
Sure 93: Der lichte Tag
Sure 94: Dehnten wir nicht aus?

Der Benediktinerpater Anselm Grün hat ein schönes kleines Buch* über den Umgang mit negativen Gedanken geschrieben. Er wendet darin den Oberbegriff Einreden an – sowohl auf die dunklen Gedanken selbst als auch auf ihre positiven Entgegnungen. Das Wort Einreden hat ja in der juristischen Sprache eine ähnliche Bedeutung wie Einspruch – etwa in dem Sinn, daß man eine uralte Rechnung nicht mehr bezahlen muß, weil man dagegen die Einrede der Verjährung erheben kann.

Entsprechend kann man gegen das, was einen an niederdrückenden Gedanken quält, innerlich Einrede erheben. Ja, man kann sich bewußt machen, daß eigentlich jedes Wort, das unsere Gemütslage in eine bestimmte Richtung verändert – zur Zuversicht oder zur Depression, zum Optimismus oder zum Pessimismus – eine Einrede in einem allgemeineren, wörtlichen Sinn ist. Wir reden uns etwas ein, und das kann wahr oder falsch, passend oder unpassend sein, wir merken aber in jedem Fall, wenn wir aufmerksam sind, daß es eine Auswirkung auf unsere Grundstimmung hat.

Einreden beginnen bei den einfachen Worten der Kindheit – „meine Mutter hat immer gesagt…“ – und enden bei hohen Worten aus dem Schatz des Glaubens. Sie kommen und gehen in unserem Kopf meistens nach ihren eigenen Gesetzen, auf die wir keinen Einfluß haben. Allerdings besteht unsere Möglichkeit, ihren Strom zu steuern, immerhin darin, gute Einreden zu kennen, mit denen man den schlechten begegnen kann.

Wenn ich ein Koranwort für besonders geeignet halte, in diesem Sinn eine gute Einrede zu bilden, dann das folgende Wort aus Sure 94, Vers 5:

Denn siehe mit dem Schweren kommt das Leichte.

Ich erwarte deshalb mit Zuversicht die Bestätigung von Herrn Öztaş, daß die Übersetzung, die mir IslamiCity auch für die türkische Sprache liefert

Zorlukla beraber kolaylιk vardir.

zu seinem nationalen Schatz guter Einreden gehört.

Übrigens gibt es eine ganz ähnlich lautende Stelle in Sure 65, es heißt dort in Vers 7:

Nach Schwierigkeit gibt Gott Leichtigkeit.

Der Unterschied zu Sure 94 besteht in der Einbeziehung Gottes in das Naturgesetz des Wechsels von Schwer und Leicht. Man könnte fragen: ist das Wort nur mit Gott denkbar oder darf auch der Ungläubige sich an solchen und ähnlichen Worten trösten?

Ähnliche Parallelworte, die man im Wechsel mit oder ohne Gott denken kann, gibt es auch in der Bibel. So wollen etwa einige Verhaltensforscher herausgefunden haben, daß es auch ohne Einbeziehung Gottes vernünftig ist, sich an das Jesus-Wort zu halten wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar (Matthäus-Evangelium Kapitel 5, Vers 39) Angeblich soll das Anbieten eines schutzlosen Körperteils selbst im Reich der Raubtiere den „Beißreflex“ unterdrücken.

Ähnlich halten andere die Predigt, die Jesus über die falschen Sorgen hält, ebenfalls für allgemeingültig: Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. (Matthäus 6, 28 – 29)

In meiner Jugend haben wir darüber gestritten, ob solche und ähnliche Verse „mit Gott“ oder „ohne Gott“ zu interpretieren sind. Heute meine ich im Sinne der Einreden, daß es darauf gar nicht ankommt. Wenn die innere Stimme sich Gehör verschaffen will, muß ein bestimmter Glaube hinzutreten und der Stimme helfen. Vielleicht liegt hier der Anfang eines Weg zu Gott.


* Anselm Grün, Einreden, 2001 im Verlag der Abtei Münsterschwarzach bei Würzburg

Zeichen am Himmel

Sure 85: Die Türme
Sure 86: Der Nachtstern
Sure 87: Der Höchste
Sure 88: Die Bedeckende
Sure 89: Die Morgenröte

Wenn es stimmt, daß die großen Religionen aus der Wüste kommen, dann geben uns drei der oben genannten fünf Suren (Die Türme, Der Nachtstern und Die Morgenröte) mit ihrem an den nächtlichen Wüstenhimmel gerichteten Blick sicherlich einen sinnlichen Eindruck aus der Zeit der Entstehung des Korans. Reisende berichten uns ja immer wieder von den zum Greifen nahen Sternen am klaren Himmel der Wüste. Dies ist die Welt, aus der die ersten Suren kommen.

Die Türme sind nach einer anderen Übersetzung die Konstellationen der zwölf Sternbilder des Tierkreises, zwölf Burgen, zwölf Forts. Der Nachtstern (Sure 86) ist ein Bild für alle Sterne, die mit ihrem Licht den Weg zur Erde durchbohren und daran erinnern, daß wir im Universum nicht allein sind. Jede Seele hat über sich einen Hüter (Sure 86, Vers 3), das will das Zeichen des Nachtsterns bedeuten.

Die Tierkreiszeichen, der Stern und auch die Morgenröte (Sure 89) sind hier alle jeweils Teil einer Schwurformel, auf die dann immer eine Wahrheit folgt, die offenbar von den Gegnern Mohammeds zuvor bestritten wurde. In der Sure Morgenröte folgt auf den Schwur die Frage: Ist hierin ein Schwur für die Einsichtsvollen? (Vers 4)

Die Zeichen am Himmel werden als sichtbare Beweise, als ewige Wahrheitsschwüre für die Existenz Gottes angesehen. Deshalb führt die Betrachtung des Himmels zur Ehrfurcht. Das hat eine lange Tradition, die so lange wirkt, wie es Menschen gibt, die den Nachthimmel betrachten.

Selbst der rationale Philosoph Kant hat innerlich bewegt zum Himmel geschaut und die berühmten Worte geprägt: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je älter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.

Nirgendwo ist der Himmel klarer und näher als über einer Einöde von Sand oder Wasser. Deshalb ist es gut vorstellbar, daß Mohammeds lange nächtliche Gebete in der Einsamkeit, in der Zeit vor seiner Berufung, immer wieder um die Bilder gekreist sind, die ihm der zum Greifen nahe Himmel über der Wüste geliefert hat.

Es sind die Bilder, die auch Mose in seiner Zeit als Schafhirte in Midian gesehen hat, ebenso wie Jesus bei seinem 40tägigen Fasten in der Wüste, Sternzeichen, Türme am Himmel, funkelnde Planeten, der rote Horizont des heraufziehenden Morgens. Ob die Bilder, die heute noch in vollkommen gleicher Weise am Himmel zu sehen sind, neue Generationen ebenso inspirieren können wie damals?

Samstag, 11. Oktober 2008

An jenem Tag

Sure 80: Er runzelte die Stirn
Sure 81: Das Zusammenfalten
Sure 82: Das Zerspalten
Sure 83: Die das Maß verkürzenden
Sure 84: Das Zerreißen

An jenem Tag werden strahlende Gesichter sein,
lachende und fröhliche.

(Sure 80, Verse 38 und 39)

So fröhlich wie hier findet man den Koran nicht oft, auch wenn man die Wonnen des Paradieses durcheilt von Bächen natürlich als mit ewiger Fröhlichkeit erfüllt immer vor Augen haben kann. Aber die andere Seite will ja ebenfalls gesehen sein, und sie soll als ernste Warnung wieder und wieder gepredigt werden:

Und an jenem Tag werden staubbedeckte Gesichter sein,
bedeckt von Schwärze.

(Sure 80, die unmittelbar folgenden Verse 40 und 41)

Das ist die ernste Kehrseite der Fröhlichkeit des Paradieses. Über den Tag, an dem sich die Wege der Menschen in eine der beiden Richtungen trennen sagt Sure 81:

Dann wird jede Seele wissen, was sie getan hat.
(Sure 81, Vers 14 )

Leider hat mein Searchtruth gerade zu diesem Vers keinen Kommentar, einem Vers, der fast wie eine Sterbeglocke ehern und düster über diesem letzten Tag erklingt (in Sure 82, Vers 5 wird er fast wörtlich wiederholt). Man würde gerne mehr erfahren, denn der an feste Gebote und Regeln gewohnte Christ fragt beim Lesen des Korans in zunehmendem Maße, was denn am Ende das Gute und Schlechte sein wird, das an jenem Tag gewogen wird und vor allem: wie es gewogen und bewertet wird.

Der Koran hat nach meinem Eindruck ein großes erzieherisches Ziel und entläßt den Gläubigen deshalb nicht aus der Unsicherheit, daß selbst ein ausreichendes Maß an guten Taten und selbst die Erwartung eines barmherzigen Gottes (wie er beginnend mit den ersten Worten von Sure 1 angerufen wird) ihn sicher sein lassen kann, eines Tages den Weg ins Paradies antreten zu dürfen. Er soll bis zum letzten Atemzug darum bemüht sein, sich dieses Paradieses würdig zu erweisen und genügend Abstand zu denen zu halten, denen Dschehenna beschieden sein wird.

Gerne würde man auch im Koran eindeutig die Erlösung garantierende Worte lesen wie alle, die an ihn glauben, gehen nicht verloren, sondern haben ewiges Leben (Johannes-Evangelium Kapitel 3, Vers 16). Aber diesen einfachen Weg lehnt der Koran ab. Es ist nicht auszuschließen, daß er dabei das Bild der Christen vor sich hat, die 600 Jahre nach dem Hören dieser Worte in gleichgültiger Erwartung eines garantierten Paradieses leben und aufgehört haben, ihrer Umgebung ein Licht zu sein.

Das ist natürlich Spekulation, aber über das Wissen, was jede Seele getan hat und was daraus folgt, könnten Moslems und Christen fruchtbar miteinander ins Gespräch kommen und sich gegenseitig fragen und sagen, was denn in Zukunft auf dieser Welt zu tun sei.

Am Ende von Sure 82 heißt es:

Was lehrt dich wissen, was der Tag des Gerichts ist?
(Vers 17)

Diese Frage hat eine gewissermaßen rhetorische Form, die am Ende des Korans häufiger vorkommt, bezogen auf verschiedene Inhalte. Sie ist rhetorisch, weil sie in der Regel nicht in ihrem direkten Sinn beantwortet wird. Am Ende von Sure 82 steht sie gleich zweimal .

Ja, möchte man sagen, wie kommen wir hier zu einem sicheren Wissen?

Freitag, 10. Oktober 2008

Kismet

Sure 75: Die Auferstehung
Sure 76: Der Mensch
Sure 77: Die Entsandten
Sure 78: Die Kunde
Sure 79: Die Entreißenden


Wer da will, der nimmt zu seinem Herrn einen Weg.
Doch könnt ihr ihn nicht wollen, es sei denn, daß Gott will.
(Sure 76, Verse 29 und 30)

In diesen beiden Versen begegnet dem Leser ein Anklang an das, was ein schicksalhafter, gottergebener, ja vielleicht sogar „fatalistischer“ Zug im Glauben der Moslems sein könnte – Kismet eben.

Bevor man sich sein ererbtes christliches Wissen über angeblich irrationale moslemische Charakterzüge an dieser Stelle vorschnell bestätigen läßt, sollte man daran denken, daß die obigen Koranworte – 34 Seiten vor Ende des fast 600 Seiten starken Buchs – nur wenige Parallelstellen im Koran haben, im Gegensatz zu vielen anderen Versen. Mir ist zumindest keine Stelle in Erinnerung, in der ich vorher etwas Einprägsames darüber gelesen habe, was geschieht, wenn der Wille eines Menschen mit dem Willen Gottes konkurriert.

Ich vermute deshalb nicht, daß wir hier vor einer sehr zentralen Aussage des Korans stehen. Gewiß, Gott ist allmächtig und kann auch unseren Willen bezwingen, aber die endlosen Ermahnungen an den Menschen, seine Macht doch nun endlich anzuerkennen, gehen alle ganz augenscheinlich davon aus, daß es eine Anerkennung unter Zwang nicht gibt. Der Mensch ist gerade gegenüber Gott in höchstem Maße frei und deshalb auch in höchstem Maße verantwortlich. Die Dschehenna wartet regelmäßig am Ende der Kette von menschlichen Fehlentscheidungen, und schlimm ist die Fahrt dorthin.

Entsprechend interpretiert auch mein kluger Kommentator in Searchtruth den Vers 30 so, daß Gott in die Entscheidungen des Menschen nur sozusagen eingrenzend eingreift. Der Mörder wird einen Mord begehen, vielleicht auch mehrere, aber Gott begrenzt seine Macht so, daß er am Ende nicht alle Menschen ums Leben bringt. Der Dieb kann stehlen, aber unter Gottes Oberaufsicht kann er sein übles Wirken nicht auf die ganze Welt ausdehnen.

Gott kann den Willen des Menschen begrenzen, kann wollen, daß der Mensch nicht will. Aber das stellt den Menschen nicht auf ein Schachbrett, auf dem nur Gott allein die Figuren bewegt. Für die meisten Spielzüge trägt der Mensch die ausschließliche Verantwortung.

Kismet ist deshalb vermutlich eher ein arabisches Wort, an dem sich volkstümliche Ängste und Hoffnungen festmachen lassen - so wie Schicksal ein ähnliches, vielleicht sogar typisches deutsches Wort ist.

Meine englische Koran-Konkordanz zeigt für fate nur insgesamt vier Einträge, alle vier meinen ein bestimmtes historisches Geschick, das einem Volk konkret widerfahren ist (wie etwa dem Volk Noahs in Sure 11, Vers 89). Die Transkription von IslamiCity legt nahe, daß hier im Arabischen auch nicht Kismet steht sondern ein anderes Wort. Entsprechend erscheint auch in der Transliteration der bereits erwähnten Konkordanz Kismet kein einziges mal.

Auch in der Lutherbibel findet sich das Wort Schicksal nicht. Nach meinem Eindruck ist der „Fatalismus“, der den Moslems (aber sicherlich auch manchen Christen) angedichtet wird, eher eine Erfindung von religionsfremden Menschen, denen es undenkbar erscheint, daß man unter Gottes Himmel frei leben kann.

Man kann es aber, und man sollte – das legt der Koran von der ersten bis zur letzten Seite nahe – dabei in gleichem Maße verantwortlich leben, wie man die Freiheit des eigenen Willens gegen Eingriffe von außen schützt.

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Nicht so die Betenden

Sure 70: Die Stufen
Sure 71: Noah
Sure 72: Die Dschinn
Sure 73: Der Verhüllte
Sure 74: Der Bedeckte

Die Sure 74 ist nach der Tradition zusammen mit Sure 96 die älteste Sure, die Mohammed offenbart wurde. Dies geschah um das Jahr 610 herum, Mohammed war damals etwa 40 Jahre alt. Folgt man der Tradition, daß Sure 96 am Anfang steht, dann wäre Sure 74 als zweite erst nach einer monatelangen Pause gefolgt, einer Pause, in der Mohammed offenbar in tiefer Ungewißheit über sein Prophetenamt gelebt hat. Als ihm dann eines Tages der Engel Gabriel erneut erschien, ist Mohammed nach Haus geflüchtet, hat sich ins Bett gelegt und seinen Angehörigen befohlen „Deckt mich zu! Deckt mich zu!“

Aus dieser Situation ruft ihn Sure 74 heraus:

O du Bedeckter,
steh’ auf und warne.

(Vers 1 und 2)

Der Leser des Korans macht bei seinem Lesen einen zeitlichen Weg über etwa 30 Jahre zurück. Die ersten Suren beginnen in Medina, wo Mohammed zwischen 622 und 630 lebt, die letzten enden wie gesagt in dem Mekka der Jahre um und nach 610. Der Vorteil dieses Rückwärtslesens besteht darin, daß sozusagen die ausführliche und deshalb leichter verständliche Botschaft zuerst kommt und erst später eine Art Konzentrat folgt.

Wenn man gegen Ende des Korans zu den frühen Suren gelangt, dann kennt man also bereits viele Gedanken vom Beginn des Korans und lernt jetzt ihre ursprüngliche, oft in eher knappen Worten dargestellte Bedeutung kennen. So gibt es in Sure 70 ein Bild des jüngsten Tages, das in seiner Kraft und Prägnanz das meiste, was vorher gesagt wurde, noch übertrifft:

An jenem Tage wird der Himmel sein wie geschmolzenes Erz.
(Vers 8)

Diesem Urereignis werden in Sure 70 die Menschen in ihrer grauen Beschränktheit gegenübergestellt. Sie haben nichts vorzuweisen, was ihnen an diesem Tag Schutz bieten könnte. Im Gegenteil, sie sind schon hier auf der Erde kleinlichen Gefühlsschwankungen unterworfen, mutlos bei Schwierigkeiten, knauserig im Glück. So ist der Mensch! sagt Sure 70 in den Versen 19 – 21, fügt dann aber in einer plötzlichen Wendung an:

Nicht so die Betenden.
(Vers 22)

Man wird hier erneut daran erinnert, daß Mohammed den Gläubigen eigentlich neben der Furcht vor Gott und vor dem Gericht am Ende der Zeiten nur zwei Dinge unmittelbar ans Herz legt: das Gebet und die Armenspende. Dem wird wenig hinzugefügt, klare Gebote und Verbote im Sinne des mosaischen Gesetzes oder des Liebe deinen Nächsten wie dich selbst sind offenkundig nicht der Stil des Korans.

Mohammeds Lehre ist dafür aber eine Renaissance des Gebetes. Die Christen übersehen das oft, weil sie sich an den formalisierten Gebeten stören und die komplizierte Abfolge von unterschiedlichen Gebetshaltungen nicht verstehen. Sie vermuten dahinter eine weitestgehend von eigenen Gedanken und Wünschen befreite Haltung, die eher einem Untertanen ansteht, nicht aber einem freien Gegenüber Gottes.

Herr Öztaş sieht das ganz anders. Er betet, wie er mir sagt, für sehr konkrete Anliegen, er betet sogar – es rührt mich sehr – auch für mich und meine Familie. Sein Leben ist von Gebet durchdrungen, und ich glaube ihm, daß er nicht nur mit seinem Körper betet, sondern auch mit seinem hellwachen Geist.

Eine alte jüdische Tradition verlangt von den innerlich Betenden eine sichtbare äußere Beteiligung. Zumindest die Lippen sollen sich bewegen, am besten der ganze Mensch, und so beten die frommen Juden in Jerusalem an der alten Westmauer des Tempels oft in wiegenden, manchmal ruckartigen Bewegungen, gerade so, als wollte ihr Körper den Geist wach halten.

Daß ein solches Wachhalten notwendig ist, weiß niemand besser als ein Christ, der – gewohnt an stille, reglose Gebete – immer wieder den roten Faden seines stummen Gebets verliert und ihn dann wieder neu finden und aufnehmen muß. Nichts läßt den Geist unruhiger schweifen als der Vorsatz, eine bestimmte Zeit im Gebet zu verbringen.

Auch ich bete gelegentlich (laut, am Frühstückstisch bei der Morgenandacht mit meiner Frau) für Herrn Öztaş und seine Familie, bete auch für seine besondere säkulare Aufgabe in seiner Heimatstadt, über die an einem anderen Ort noch zu berichten wäre. Alle drei Religionen des Buches rufen zum Beten auf. Ich fühle mich denen, die diesem Ruf folgen, in meinem Herzen verbunden – egal ob sie es im Stehen, Sitzen, Knien oder Liegen tun, in Jerusalem in Rom oder Mekka, still oder bewegt.

Wer ernsthaft betet, sucht Gott, wer Gott sucht, von dem läßt er sich finden. So sagt es der biblische Prophet Jeremia in seinem Buch, Kapitel 29, Vers 13 und 14.

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Der menschliche Prophet

Sure 65: Die Scheidung
Sure 66: Das Verbot
Sure 67: Das Reich
Sure 68: Die Feder
Sure 69: Die Unvermeidliche

Von den letzten 50 der insgesamt 114 Suren werden nur noch fünf (65, 66, 76, 98 und 99) der Zeit in Medina zugerechnet, alle anderen sind aus der frühen Mekka-Periode, also aus den anfechtungsreichen, ja gefährlichen „Gründerjahren“ des Propheten. Diese Jahre beginnen etwa 609 und enden 13 Jahre später mit der Auswanderung nach Medina im Jahre 622, dem Jahr 1 der islamischen Zeitrechnung.

Die Suren aus der Zeit in Mekka sind meist kürzer und enthalten in der Regel keine ausführlich ausgearbeiteten Lebens- und Verhaltensregeln, wie sie später für eine sich ständig vergrößernde Gemeinde in Medina notwendig waren.

Als eine typische frühe Mekka-Sure sieht mein, in seinen Fußnoten oft auch kräftig kommentierender Übersetzer von 1901, Max Henning, die Sure 68 an. Sie beginnt:

Bei der Feder und was sie schreiben,
du bist nicht, bei der Gnade deines Herrn, besessen!

(Vers 1 und 2)

Mohammed muß zu Beginn seines Wirkens also offenbar auf eine grundsätzliche Weise getröstet und bestärkt werden. Wenn er das alles an sich heranläßt, was seine Gegner an Bösem über ihn verbreiten, ist er mit seiner Kraft bald am Ende. Deshalb bestärkt ihn die Sure:

Du bist wahrlich von edler Natur,
und du sollst schauen und sie sollen schauen,
wer von euch der Verrückte ist.

(Verse 4 bis 6)

Hier ist der Prophet als ein ganzer Mensch sichtbar, dessen Anfechtungen durch üble Nachrede genauso wenig verschwiegen werden wie die Kritik der jüdischen Zeitgenossen am Fresser und Weinsäufer Jesus (Matthäus 11,19). Bibel und Koran sind sich hier in ihrer schnörkellosen Aufrichtigkeit durchaus ähnlich.

Anders als bei Jesus muß allerdings bei Mohammed die Kritik nicht bis zum Ende widerlegt werden. Mohammed behauptet ja nicht, von göttlichem Ursprung zu sein, deshalb kann er eigentlich auch Fehler machen. Das geschieht etwa in Sure 66. Dort hat er aufgrund von Vorwürfen seiner Frauen von sich aus den Trennungsstrich zu einer schönen Sklavin gezogen, mit der er ehelich verkehrte. Aber die Sure korrigiert ihn:

O Prophet, warum verbietest du, was Gott dir erlaubt hat?
(Vers 1)

Ein irrender, ein über das Ziel hinausschießender Prophet ist also vom Koran her durchaus denkbar.

Vor diesem Hintergrund ist mir weiterhin nicht klar, warum die Moslems trotzdem an einer fast göttlichen Unfehlbarkeit und Makellosigkeit Mohammeds festhalten. Er wird ja doch einerseits immer wieder ganz fest in eine irdische Geschichte eingebunden, die historische Situation jeder Sure wird von den Kommentatoren genauestens abgeklopft. Aber andererseits entsteht am Ende dann doch das Bild eines Mannes, den man wie einen mittelalterlichen christlichen Heiligen im milchigen Lichtschein seiner Heiligkeit ohne Einschränkungen und Makel verehrt.

Heilige haben eine sie verklärende „Legende“, so war es früher. Aber damit hat zunächst die Evangelische Kirche ab 1500 und dann die Aufklärung ab 1750 gründlich aufgeräumt und historische Fakten an den Stellen gefordert, wo man früher Sagenbilder hatte. Ich will nicht sagen, daß auch die Geschichten von Mohammed ins „legendäre“ abdriften, dafür arbeiten die Kommentatoren wie gesagt zu kritisch an den historischen Details. Aber mir erscheint am Ende ein Glaube zu stehen, der sich von den eben noch erarbeiteten historischen Details dann doch wieder vollkommen löst. Er wird zu einem reinen Glauben, einem bewußt unhistorischen Glauben, der Mohammed in einem so hellen Licht sieht, daß ihn kein anderes menschliches Wesen auch nur annähernd erreicht.

Ich sehe darin ein Paradox, für das es allerdings eine christliche Parallele gibt. Vielleicht gehen in dieser Frage das Dogma und der Glaube ganz ähnlich überkreuz wie bei einer wichtigen, die beiden großen Kirchen trennenden Frage: die Katholischen behaupten, daß man nur durch gute Werke in den Himmel kommt, die Evangelischen dagegen sagen allein durch den Glauben. Aber - platt gesagt - die Katholiken tun dann gar nichts (und glauben an Gottes Gnade), während die Evangelischen rastlos werkgerecht sind*.

Behaupten also entsprechend auch die Christen einen Gott Jesus und lassen ihn in der Praxis so sehr Mensch sein, daß er gegen jede Art von kritischer Herabsetzung hier auf Erden völlig ungeschützt und ohen Hilfe ist? Und glauben die Moslems an den Menschen Mohammed, aber machen ihn dann doch so über alles Menschliche erhaben, daß selbst die kleinste Beleidigung seiner Person eine weltweite Empörung auslöst?

Ich kann nicht beweisen, daß es so ist. Aber ich sehe hier doch andeutungsweise einen Ansatz für zukünftige Strategien, mit denen man Streit vermeiden und gegenseitiges Vertrauen erneuern kann.


* den Gedanken zitiert Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Buch Der Garten des Menschlichen" (1978) als Aussage von Wilhelm Kütemeyer

Dienstag, 7. Oktober 2008

In fremden Gärten

Sure 62: Die Versammlung
Sure 63: Die Heuchler
Sure 64: Der gegenseitige Betrug

Der Titel der Sure 64 At Taghabun ist offenbar schwer ins Deutsche zu übertragen. Der Übersetzer Rassoul hat "Die wechselseitige Ab- und Zunahme" gewählt, Henning mit seiner Vorliebe für farbige Formulierungen schreibt "Der gegenseitige Betrug". Richtig ist an beiden Versionen, daß der Tag des jüngsten Gerichts als ein Tag des Ausgleichs zwischen Guten und Bösen angesehen wird, in dem tatsächlich den einen das weggenommen wird, was den anderen zusteht, und umgekehrt. Vielleicht sollte man modern "Die Transaktion" übersetzen und damit die negative Assoziation verhindern, die das Wort Betrug mit sich bringt.

Allerdings legt auch der wie immer ausführliche und einleuchtende Kommentar von Searchtruth an dieser Stelle nahe, daß es zumindest einige Lesarten gibt, welche den für viele überraschend kommenden Tausch der Plätze in Himmel und Hölle wie ein falsches Geschäft erscheinen lassen, eben wie einen Betrug.

Ich halte mich hier nur aus einer gewissen Beharrlichkeit weiter an der Henning-Übersetzung, es ist bei Wanderungen wie dieser besser, wenn man nicht ständig springt. Was allerdings mein Urteil über die Korrektheit der Überlieferungen und meine Kritik an einzelnen Auslassungen und Zufügungen des Korans betrifft, so will ich in Zukunft vorsichtiger sein als bisher. Ich befinde mich da, wie ich mehr und mehr verstehen lerne, in einem fremden Garten.

So hat meine voreilige Erwähnung der angeblich weggelassenen Verse in Sure 53 Herrn Öztaş nicht gefallen, ich habe mich bei ihm dafür entschuldigt und tue es hier nochmals. Er empfindet sie als Diffamierung seines Glaubens und ich folge ihm darin. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß sowohl Searchtruth in einem Kommentar zu Sure 22 als auch Wikipedia in einem Artikel über die Frage dieser Verse seriöse islamische Quellen zitiert, welche zumindest das Gerücht in die Welt gebracht haben, Mohammed habe sich - möglicherweise sogar aus Versehen - an einer bestimmten Stelle einmal zu gunsten dreier polytheistischer Gottheiten geäußert.

Ohne in den Streit darüber eingreifen zu wollen, kann klar gesagt werden, daß es sich um einen Gedanken handelt, der im krassen Gegensatz zu allem steht, was Mohammed sonst gepredigt hat. Nun ergreife ich hier allerdings auch im eigenen Interesse die Partei der in ihren Gefühlen gekränkten Moslems*, denn auch manches an meinen Gefühlen wird angegriffen, wenn es umgekehrt die moslemischen Gelehrten allzu bunt mit der Bibel treiben. Auch sie sollen, wenn sie in meinem Garten arbeiten, den nötigen Respekt erkennen lassen.

Um es konkret zu sagen werbe ich dafür, die Prophezeiungen über den Propheten aus Deuteronomium (5. Mose) 18, Vers 15 und folgende - Einen Propheten wie mich (Mose) wird dir JHWH, dein Gott aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, erstehen lassen - nicht vorschnell den Juden und Christen streitig zu machen und auf Mohammed zu übertragen. So tut es der von mir sehr geschätzte moslemische Theologe und Philosoph Fethulla Gülen (siehe Herrn Öztaş Kommentar zu Suren 58 - 61, der Gülen zitiert).

Ich lade ein, das einleitende Kapitel zum Buch des Papstes über Jesus, das im vergangenen Jahr erschienen ist, in seiner schönen, anschaulichen Sprache zu lesen**. Hier wird auf wenigen Seiten entfaltet, warum man Jesus nur versteht, wenn er als der Moses-Nachfolger und -Vollender begriffen wird. Vielleicht wird man es eines Tages als das Geschenk der Christen an alle Welt ansehen, daß sie es gewagt haben, zu glauben, Gott könne die unendliche Distanz zwischen ihm und den Menschen dadurch aufheben, daß er erneut einen Freund erstehen lassen würde wie es Mose einer war***.

Dieser Freund sollte allerdings von den Beschränkungen des Mose frei sein und deshalb Gott von Angesicht zu Angesicht sehen und einen neuen und höheren Bund zwischen Gott und Menschen vermitteln können (Hebräerbrief 9, Vers 15 im Neuen Testament). Dies war nur in der Wesensgleichheit mit Gott möglich. Für diese Gleichheit steht Jesus.

Das also ist "mein" Garten. Wer ihn betrachten will, soll die Pflanzen darin leben lassen. Aber das gilt auch für den Garten, den meine moslemischen Nächsten kultivieren. Auch ihre Pflanzen will ich achten, ja mich dafür einsetzen, daß sie geschützt werden.



* natürlich nicht die Partei der Fatwa, die 1989 als eine Art Todesurteil von Teheran gegen Salman Rushdie verhängt wurde, der aus der ganzen Sache bekanntlich einen kompletten Roman gemacht hatte.
** gerne verschicke ich eine pdf-Datei der acht Seiten, der Herder-Verlag möge mir verzeihen (Anfragen an runkel at runkel.de). Ich habe seinerzeit auch zu diesem Buch einen eigenen Blog geschrieben, der einiges verkürzt zusammenfaßt, der aber das Leseerlebnis in keiner Weise ersetzt.
*** Exodus (2.Mose) 33, Vers 11 sagt Und JHWH redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, so wie ein Mann mit seinem Freund redet, allerdings muß es eine verhüllte Nähe gewesen sein, wie Vers 23 im selben Kapitel nahelegt.

Montag, 6. Oktober 2008

Missing Link

Sure 58: Die Streitende
Sure 59: Die Auswanderung
Sure 60: Die Schlachtordnung
Sure 61: Die Versammlung

In der Welt der drei "Religionen des Buches" ist es selbstverständlich, daß die ältesten Mitglieder, die Juden, nur eins der drei Bücher als gültig anerkennen, die Christen zwei und die Moslems drei.

Ebenso selbstverständlich ist es, daß die Christen Hinweise im ersten Buch, dem Alten Testament, finden, die das zweite Buch, das Neue Testament, mit seinem Vorläufer verbinden.

Für einen Moslem ist dann konsequenterweise auch der nächste Schritt logisch: Altes und Neues Testament enthalten nach seiner Vorstellung auch Hinweise auf das dritte und letzte Buch, den Koran. An dieser Stelle reiben sich allerdings Juden und Christen ausnahmsweise einmal gemeinsam ungläubig die Augen. Wo, fragen sie, sollen solche Hinweise zu finden sein?

Daß die Christen im Alten Testament wörtliche Hinweise auf den Messias, den Christus, wie er griechisch heißt, in reichem Maße finden, bestreiten die Juden nicht. Sie deuten die entsprechenden Stellen nur fundamental anders, indem sie Jesus die Messias-Würde absprechen. Aber wo, so fragt man sich sozusagen in Jerusalem und Rom gleichzeitig, wo findet sich ein Hinweis auf einen Propheten namens Mohammed in einem der beiden Bibelbücher?

Ich hatte vor einigen Jahren schon einmal gehört, daß ein Prophetenwort des Alten Testamentes als Prophezeihung auf Mohammed gedeutet worden war, und zwar las ich es bei einem zum Islam bekehrten christlichen Priester. Er wies im Propheten Haggai auf eine Stelle hin (Kapitel 2, Vers 7), in der es heißt, daß Gott die Welt erschüttern wird und daß dann aus allen Enden der Erde die Kostbarkeiten aller Nationen kommen und den Tempel in Jerusalem füllen werden. Hebräisch liest sich die Stelle von den Kostbarkeiten aller Nationen als chemdat kol ha-gojim, und tatsächlich erinnert der Konsonantenstamm CH-M-D* von chemdat an den gleichen Stamm von achmad, von Mohammed. Der wäre also als Person die kostbare Erfüllung des heiligen Ortes.

Der Koran enthält in Sure 61 diese Verbindung nun noch sehr viel expliziter, er baut sie verglichen mit der biblischen Verbindung aber nur "rückwärts", indem er eine in der Bibel nicht vorhandene Prophezeiung erstmals im Koran berichtet. Die Kommentatoren wiederum setzen alle Kräfte daran, um auch "vorwärts" den missing link nachzuweisen. Hier zunächst der Koran:

Und da Jesus der Sohn der Maria sprach: "O ihr Kinder Israel, siehe ich bin Gottes Gesandter an euch, bestätigend die Thora, die vor mir da war, und einen Gesandten verkündigend, der nach mir kommen soll, des Name Ahmed."
(Vers 6 in der Henning-Übersetzung)

Was die Kommentatoren hierzu ergänzend erarbeitet haben, ist die folgende Theorie: auch nach dem Zeugnis der Bibel, und zwar dem des Johannes-Evangeliums, hat Jesus einen prophetischen Nachfolger verheißen. Er wird im griechischen Originaltext Paraklet genannt, Tröster, wie Luther in Johannes 14 und an weiteren Stellen in den beiden Folgekapiteln übersetzt:

Und ich will den Vater bitten, und er wird euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit.
(Johannes 14, Vers 16 in der Luther-Übersetzung)

Dieser Paraklet ist nach dem Selbstzeugnis von Johannes 14,26 der Heilige Geist:

Der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.
(Johannes 14, Vers 26)

Dieser Deutung widerspricht Searchtruth und mit ihr wohl auch anderen moslemische Kommentatoren, die bereits zu Zeiten der Henning-Übersetzung 1901 bekannt waren. Sie behaupten, daß das schwer übersetzbare Wort Paraklet falsch überliefert wurde und in Wirklichkeit Periklyt, heißt, "der Gepriesene", was die gleiche Bedeutung wie Ahmed hat.

Unterstützung findet diese These, die also eine Parallele zwischen der in Sure 61 überlieferten Prophezeiung des Ahmed und der Verheißung aus Johannes 14 herstellen würde, in einem Evangelium Barnabas, das sich in der islamischen Welt großer Beliebtheit erfreut. Es liefert eine in vielen Punkten andere, dem Islam nahestehende Version des Lebens Jesu. Wikipedia hat hierzu einen ausführlichen Artikel, in dem allerdings erhebliche Zweifel an der Echtheit dieses Evangeliums erhoben werden.

Umgekehrt kennt Searchtruth eine Reihe von Gründen für die Zweifel an der Echtheit der vier biblischen Evangelien und bedient sich dabei moderner Ergebnisse der historisch-kritischen Methode westlicher Theologen**. Diese Theologen, die den gegenwärtigen mainstream zumindest der protestantischen Theologie bilden, datieren die Entstehung aller Evangelien sehr spät, und zwar auf die Zeit nach dem Jahre 70. In diesem Jahr fand die in den Evangelien vorausgesagte Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer statt, ein Ereignis, das man historisch-kritisch betrachtet gar nicht voraussagen kann.

Niemand wird mir verübeln, daß ich als Christ an der Glaubwürdigkeit meiner verehrten vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes festhalte und deshalb weiterhin ein missing link zwischen Koran und Bibel sehe. Da, wo die Moslems eine Verbindung von Jesus zu Mohammed nachweisen wollen, steht für mich die Einzigartigkeit des Retters und Erlösers Jesus Christus.

Ich sehe aber auch, daß der Wunsch nach einer Brücke zwischen den beiden Büchern im Grunde genommen ein Baustein für den Frieden zwischen Moslems und Christen ist.

* in den semitischen Sprachen, zu denen Hebräisch und Arabisch gemeinsam gehören, definiert sich eine Vielzahl von Bedeutungen über Dreiergruppen von Konsonanten, zu denen sich die Vokale dann nur noch zur Nuancierung des Wortsinnes hinzugesellen
** ob die Leute von Searchtruth wissen, auf was sie sich da einlassen? Wenn historische Kritik erlaubt ist, dann muß man sie auch auf den Koran anwenden dürfen - mit allerdings vorhersehbar verheerenden Folgen!

Sonntag, 5. Oktober 2008

Der poetische Koran

Sure 55: Der Erbarmer
Sure 56: Die Eintreffende
Sure 57: Das Eisen

Die letzten 100 Seiten von insgesamt 575 liegen vor mir, die Suren werden kürzer, es beginnen vom optischen Eindruck her jetzt mehr und mehr die in Gedichtform gedruckten, eher rhythmischen Abschnitte.

So wird in Sure 55 in den 78 Versen insgesamt 29 mal wiederholt:

Und welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr wohl leugnen?

Das erinnert entfernt an die Psalmen 118 und 136, in denen das Volk aufgefordert wird, nach jeder Erwähnung der Größe Gottes zu sagen: denn seine Güte währet ewiglich.

Die Tradition der Auslegungen legt nahe, daß hier - als einzige Stelle im Koran - mit dem Wort ihr die Menschen und die Dämonen gleichzeitig angesprochen werden. Letztere sind die Dschinn, gute und böse Mächte im unsichtbaren Bereich, die als Personen gedacht werden und ebenso Gottes Schöpfung sind wie die Menschen. Ihre Anwesenheit durchzieht den ganzen Koran, ihre Geschöpflichkeit wird in Sure 55 Vers 14 noch einmal hervorgehoben, zusammen mit der Geschöpflichkeit des Menschen, und dann wird in Vers 15 Menschen und Dämonen gesagt: Und welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr (beide) wohl leugnen?

Mohammed hat später - so berichten es die Hadithe, die apokryphen Schriften - davon erzählt, daß er die Sure 55 tatsächlich den Dschinn gepredigt habe, und daß diese sogleich und viel freudiger als die Menschen geantwortet hätten: Wir leugnen keine der Wohltaten unseres Herrn!

Die Predigt, die von der rhythmischen Wiederholung der besagten Frage unterbrochen wird, enthält die bekannten Wunder der Schöpfung, die Schrecken der Hölle und (ausführlich) die Schönheit des Paradieses. Durch die ständige Widerholung des Verses und welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr wohl leugnen? werden die Aussagen dichter und drängender, das ist die poetische Wirkung dieser Sure.

Bemerkenswert fand ich ein kleines Detail über das Paradies in der ebenfalls in kurzen Versen gedichteten Sure 56. Dort werden unsterbliche Jünglinge den Gästen aufwarten und einen Trank kredenzen, von dem es heißt: nicht sollen sie Kopfweh von ihm haben und nicht das Bewußtsein verlieren. Ich schließe zwei Dinge daraus: das Alkoholverbot gilt nicht im Himmel, und die manchmal üble Wirkung des Alkohols hier unten auf der Erde ist offenbar auch in den frommen Welten bekannt.

Über die Christen finden sich schöne Worte in Sure 57. Wir legten, heißt es in Vers 27, in die Herzen derer, die ihm (Jesus) folgten, Güte und Barmherzigkeit. Einschränkend folgt dann allerdings eine milde Kritik: das Mönchtum jedoch erfanden sie selber. Das hat Martin Luther vermutlich ähnlich gesehen.

Samstag, 4. Oktober 2008

Kompromisse

Sure 53: Der Stern
Sure 54: Der Mond

Mohammed hat in seinem Leben viele Höhen und Tiefen erlebt, das läßt ihn bei aller Verehrung, welche die Muslime seinem untadeligen Wesen entgegenbringen, trotzdem menschlich und erdverbunden erscheinen. Bitter für ihn war die Kritik seiner Anhänger nach dem Friedensschluß von Hudaibiya (628), einem Vorort von Mekka, wo Mohammed und seine Schar aus Medina kommend an einer friedlichen Pilgerfahrt zur Kaaba gehindert wurden. Zu kläglich erschienen den Mitstreitern damals die Vorteile des Vertrages im Vergleich zu seinen Nachteilen. Später erwies sich die Vereinbarung dann als klug und nützlich, die Erinnerung an den Mißmut der Nachfolger blieb aber offenbar tief in allen haften, die dabei gewesen waren.

Auch die "satanischen Verse", die in Sure 53 Vers 19 ursprünglich gestanden und eine freundliche, allerdings vom Satan eingeflüsterte Wertschätzung für arabische Stammesgöttinnen enthalten haben sollen (Das sind die erhabenen Kraniche. Auf ihre Fürbitte darf man hoffen.), gehören zu den Geschichten, in denen Mohammed als jemand dargestellt wird, der in seiner Mission auch gelegentlich Umwege gehen mußte, um zum Ziel zu gelangen.

Den Christen ist dies alles eher sympathisch, auch ihre Helden - Mose, David, Petrus, Paulus - sind Menschen mit bisweilen sehr krummen Lebenswegen. Einzig Jesus ist von dieser Betrachtung ausgeschlossen. Ihm z.B. eine Frau anzudichten oder ihm (wie es zu Lebzeiten offenbar geschehen ist) ein lockeres Verhältnis zum Alkohol nachzusagen, ist für einen Christen schwer zu ertragen.

Christen und Moslems sollten sich deshalb nicht gegenseitig damit quälen, den jeweils größten Vertreter ihres Glaubens auf der Erde klein zu machen. Diese Aufgabe kann man den Atheisten überlassen.

Freitag, 3. Oktober 2008

Die Nähe Gottes

Sure 50: K.
Sure 51: Die Zerstreuenden
Sure 52: Der Berg

Nach wie vor empfinde ich es als einen der größten Unterschiede zwischen Bibel und Koran, daß der Gott des Korans mir distanziert und fern erscheint, während der Gott der Bibel seine Nähe zu den Menschen dadurch erwiesen hat, daß er in der Gestalt Jesu Christi selbst Mensch geworden ist.

Ich habe Herrn Öztaş natürlich nach dieser Differenz gefragt. Er hat sie verneint, und zwar mit dem Hinweis auf einen Vers, der mir in Erinnerung geblieben ist. Heute fand ich ihn wieder, er steht in dieser Form wohl nur einmal im Koran, in Sure 50, Vers 15*, wo über den Menschen gesagt wird: wir (Gott) sind ihm näher als die Halsader.

Herr Öztaş liebt dieses Wort und liest es als eine starke Aufforderung, sein tägliches Leben in die Nähe Gottes zu bringen, es im Bewußtsein von Gottes beständiger Gegenwart zu leben und mit Gottes Interesse an seinem Leben zu rechnen. Für mich hat von daher manches, was Herr Öztaş sagt und schreibt, Ähnlichkeit mit den pietistischen Gedanken der frommen Menschen, unter denen ich aufgewachsen bin. Auch ihre Frömmigkeit basierte auf einem Glauben, der jederzeit mit der Nähe Gottes rechnete und diese Frömmigkeit, diese pietas, nicht nur sonntags in der Kirche sondern im praktischen Alltag als praxis pietatis** leben wollte.

Auch in den Begriffen und Bildern des Korans ist etwas enthalten, das die physische Nähe Gottes hier unten bei den Menschen auf der Erde nahelegt. Es ist dabei für den Koran nicht notwendig, daß Gott sich auf dem Weg, den die Bibel beschreibt, ein sozusagen intimes Wissen von den Menschen verschafft, also auf ihre Ebene herabsteigt und Mensch wird wie sie. Solche Gedanken werden im Koran zugunsten der Größe Gottes ausgeschlossen.

Und trotzdem wird Gott auch von Moslems als nah empfunden. Das Bild von der Halsader legt sogar nahe, daß es eine warme, lebendige Nähe ist und nicht das Wissen eines allgegenwärtigen Kontrolleurs, sozusagen mit der Überwachungskamera aufgezeichnet. Ich empfinde diese Nähe als etwas, das meinem Denken und Glauben verwandt ist und mich deshalb in meiner Sehnsucht nach einer solchen gelebten Nähe mit den Moslems verbindet. Daß ihre Art von Nähe sie auf einen Gott verweist, der in vielen Aussagen über sich selbst etwas grundlegend Anderes sagt als der Gott der Bibel, soll mich nicht davon abhalten, ihre Suche und meine Suche als verwandt anzusehen.

* als Kinder lernten wir in einer Art Eselsbrücke 5015 als die Telefonnummer Gottes - in Psalm 50, Vers 15 heißt es Rufe mich an in der Not. Diese Eselsbrücke wäre also auch für Moslems gangbar.

** der erste "Pietist", war der Frankfurter Pastor Philipp Jacob Spener, dessen grundlegendes Buch Pia Desideria 1675 erschien, ein Buch mit dem Titel Praxis Pietatis kam wenige Jahre zuvor als Übersetzung aus dem Englischen heraus (Autor: Lewis Bayly).

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Regeln für den Kampf

Sure 46: El-Akhaf
Sure 47: Mohammed
Sure 48: Der Sieg
Sure 49: Die Gemächer

Die Sure 47 enthält die unter Christen häufig zitierten Drohworte: wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit dem Haupt. (Vers 4) Andere Übersetzungen sagen: schlagt ihren Nacken, zerschlagt ihn. Es ist deutlich, daß es sich hier um eine kriegerische Haltung handelt, um Aggression.

Gilt diese blutige Anweisung auch in Friedenszeiten? Ruft sie die Moslems auf, sich sozusagen kollektiv als sleeper unter die Ungläubigen zu mischen und auf die Gelegenheit zu warten, den Befehl aus Sure 47, Vers 4 auszuführen?

Drei Dinge sprechen gegen diese Auslegung. Zunächst die Ausleger: sie sagen, daß diese Sure für den historischen Kampf gegeben wurde, den Kampf der Moslems in Medina gegen ihre Feinde in Mekka, in den Jahren zwischen 622 (Auswanderung nach Medina) und 630 (siegreiche Rückkehr nach Mekka). Für das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionen in anderen Phasen der Geschichte haben die Nachfolger Mohammeds ganz andere Regeln.

Der zweite Grund ergibt sich beim Lesen des Korans eigentlich von selbst. Etwa 460 Seiten (von insgesamt 575) hat man gelesen, wenn man zu Sure 47 Vers 4 gelangt, das sind vier Fünftel. Bis auf ganz wenige von ihnen enthält jede einzelne Seite davon die immerwährende Klage gegen den starren Widerstand der Ungläubigen. Dieser Widerstand soll durch die Predigt des Propheten überwunden werden, durch sein Ringen um geistige und geistliche Anerkennung, durch seine Bilder von Himmel und Hölle und letztlich - durch die Herabsendung des Korans.

Wäre die Ausbreitung des Glaubens unter Anwendung von Gewalt eine Alternative zu dieser mühseligen Missionarsarbeit, so hätte man sich - platt gesprochen - diese 460 ersten Seiten sparen können. Herunter mit dem Haupt - die Ungläubigen werden dezimiert und der eingeschüchterte Rest von ihnen wird Moslem unter Zwang.

Aber so denkt der Koran nicht. Er will den Menschen der rechtschaffen handelt (Sure 46, Vers 14), und das heißt, sagt mein Searchtruth-Kommentar, daß er in Übereinstimmung von guten Taten und lauteren Motoven lebt. Dazu kann man niemanden zwingen.

Als Drittes und Wichtigstes sehe ich das Zeugnis der Moslems selbst. Sie sagen uns immer wieder, das der Glaubenskampf sich nicht gegen die Un- oder Andersgläubigen richtet. Ich glauben vor allen Dingen denjenigen gerne, die es mir als meine langjährigen Nachbarn und Mitbürger meiner Stadt sagen und bin davon überzeugt, daß ein in friedlicher Absicht gelesener Koran ebenso wie eine in friedlicher Absicht gelesene Bibel helfen können, das aggressive Potential, das in einzelnen Menschen und in ganzen Gesellschaften steckt, in Grenzen zu halten.

Mittwoch, 1. Oktober 2008

Monotheismus vs. Sektierertum

Sure 43: Der Goldputz
Sure 44: Der Rauch
Sure 45: Das Knien

Es wird im Koran erst nach und nach deutlich, was die Kritik Mohammeds an den Juden ist. Im Gegensatz zu den arabischen Polytheisten, deren Sünde darin besteht, Gott Gefährten zu geben, und zu den griechischen Christen, die Gott einen Sohn zuschreiben, wird den Juden eigentlich keine klar erkennbare Verfehlung vorgeworfen. Ihnen wird lediglich nachgesagt: sie wurden uneins. So sagt es Sure 45, Vers 16, ähnlich steht es aber auch schon in Sure 2, Vers 213 und in andren Suren. Die Juden wurden zu Sekten, sagt etwa Sure 6, Vers 160.

Man muß folgern: auch Sektierer sind auf ihre Weise Gegner des Monotheismus. Was auf der Welt unten auseinanderfällt, arbeitet gegen den Einen oben im Himmel.

Was ist die Sünde der Sektierer? Zunächst ist es ihre Überheblichkeit. Sie halten sich für ebenso weise wie Gott selbst, indem sie die klaren Regeln, die Gott den Menschen zu Beginn der Welt gegeben hat, abändern und zur Diskussion stellen. Der Koran denkt hier übrigens genau umgekehrt wie die Darwinisten: am Anfang war nicht dunkler Animismus und diffuses Gottesdenken sondern helle Offenbarung. Wer diese Offenbarung später durch zusätzliche Theorien verdunkelt, arbeitet gegen den Monotheismus, selbst wenn er in gutem Willen und um des Glaubens willen eifert.

Sektiererum verhindert aber außerdem noch etwas Anderes, und das ist noch schwerwiegender. Es betrifft nach meinem Eindruck die Spiegelung Gottes in seinen Geschöpfen hier unten auf der Welt. So wie Jack Miles es sieht (ich habe über ihn bei Sure 19 etwas geschrieben), fordert der in sich spannungsreiche Gott der Bibel den in sich ebenso spannungsreichen Menschen auf, daß er sich trotz mancher Widersprüche als eine einzige Person versteht und dadurch selbst annimmt. Der Gott des Koran tut etwas Ähnliches aber mehr nach außen Gerichtetes: er hält den Menschen dazu an, sich zu einer einzigen großen Gemeinschaft, der Einheit der Gläubigen zusammenzufinden.

Beide Aufforderungen sind jeweils von einem großen geschichtlichen Erfolg gekrönt worden - die jüdisch-christliche durch ein weit verbreitetes Menschenbild, das in verschiedenen Ausprägungen über viele Jahrhunderte in großen Teilen der Welt Gültigkeit hatte, die muslimische Aufforderung in der großen wundersamen Einigung aller arabischen Stämme zu einer einzigen, ebenfalls über viele Jahrhunderte dominanten Weltmacht.

Über letzteres will ich noch mehr lesen und dann berichten. Diese Einigung gehört offenbar zu den Mysterien der islamischen Frühgeschichte wie das Mysterium der unendlich tapferen Urchristen angesichts der Verfolgung in Rom. Über beidem steht erhaben das Bild eines Gottes, der mit sich selbst eins ist.

Dienstag, 30. September 2008

Sich beraten und sich standhaft wehren

Sure 39: Die Scharen
Sure 40: Der Gläubige
Sure 41: Erklärt
Sure 42: Die Beratung

Sure 42 fügt in das islamische Glaubensbekenntnis ein bemerkenswertes neues Element ein: die Gläubigen verrichten nicht nur das regelmäßige Gebet und geben die Armenspende, sie sind außerdem dadurch charakterisiert, daß sie ihre Angelegenheiten in Beratung untereinander erledigen (Sure 42, Vers 36).

Das versteht mein frommer Kommentar von Searchtruth durchaus in einem partizipatorischen, demokratischen Sinn: Männer und Frauen, Eltern und Kinder sind ebenso zu einer offenen Beratung ihrer Angelegenheiten untereinander aufgefordert wie Könige und Fürsten, die weise genug sind, ihre Berater frei und ohne Einschränkungen für das Volk reden zu lassen.

Wenn man diese Sure mit den Augen von Searchtruth liest, dann stehen von hier aus alle Türen für ein Leben in einer modernen, auf Gleichberechtigung und freiem Wahlrecht fußenden Gesellschaft offen.

Eine Einschränkung könnte sich allerdings durch den unmittelbar folgenden 37. Vers ergeben. Dort werden die Gläubigen außerdem als solche bezeichnet, die, wenn sie eine Unbill trifft, sich rächen (Übersetzung Henning). Das hört sich weniger demokratisch an, wird aber durch zweierlei Überlegungen eingegrenzt.

Zum einen schreiben viele andere Übersetzer sich verteidigen statt sich rächen, zum anderen schränkt gleich der nächste folgende Vers die Möglichkeiten der Verteidigung oder Rache stark ein: Die Vergeltung für eine Schädigung soll nur eine Schädigung in gleichem Ausmaß sein; wer aber vergibt und Besserung bewirkt, dessen Lohn ist sicher bei Gott. (Vers 38) Vergeltung ist erlaubt, aber wenn man es Gott recht machen will, dann geht man besser den Weg der Vergebung.

Searchtruth sagt, daß hier eine Standhaftigkeit gelehrt wird, die jederzeit vergeben kann, aber im Bewußtsein der eigenen Rechte und der eigenen Festigkeit niemals gezwungen werden kann, kleinlaut und feige aufzugeben.

Auch das ist also eine Haltung, welche in einer modernen Gesellschaft jederzeit willkommen sein dürfte.

Ich lese aus diesen Versen, daß man seinem moslemischen Nachbarn ein Grundvertrauen in Bezug auf seinen guten Willen entgegenbringen darf, in einer offenen, demokratischen Gesellschaft zu leben. Sein Koran enthält - wie meine Bibel - offene Türen für ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Daß sich in beiden Büchern auch Türen für eine enge Haltung öffnen können, sollte man wissen und nicht aus den Augen verlieren. Man muß sich aber nicht bei jedem Frommen, der einem begegnet, gleich davor fürchten.

Montag, 29. September 2008

Ismael oder Isaak?

Sure 37: Die sich Reihenden
Sure 38: S.

Gott allein weiß es, sagte der weise Koran-Kommentator Allama Ibn Kathir zu der Frage, ob der in Sure 37 zur Opferung ausgewählte und dann doch gerettete Sohn Abrahams nun Ismael war oder Isaak. Ismael war der älteste, aber er war doch "nur" der von der Magd Hagar geborene Sohn, dagegen war Isaak, der zweite, der von der Hauptfrau Sara stammende. Die Bibel berichtet von Isaaks, des Juden, Beinah-Opferung, der Koran legt dagegen Ismael, den Araber, nahe, auch wenn viele namhafte moslemische Ausleger der biblischen Version folgen. In ihren Augen ermöglicht der Koran beide Lesarten.

An vielen Stellen ist der Koran tatsächlich für unterschiedliche Auslegung offen, das ist angesichts der Vorurteile, die vielfach gegen eine monolithisch erscheinende Religion von Feuer und Schwert bestehen, für manche Christen sicher überraschend. Ich denke mittlerweile anders. Nach 415 von 575 Seiten Koran verfestigt sich in mir das Bild von einem in poetische Worte verfaßten Buch, das genauso wenig zur Herbeiführung eines mit dem Schwert erzwungenen Glaubens taugt wie die Psalmen oder die Evangelien.

Nein, der Koran ist wie jedes alte Menschheitsbuch und wie überhaupt jedes für ein großes Publikum geschriebene Buch offen für verschiedene Rezeptionen, für verschiedene Umsetzungen in vielgestaltiges, menschliches Leben. Man greift nach dem Lesen weder automatisch zum Pilgerstab und wandert nach Mekka noch greift man automatisch zur Waffe und kämpt gegen die Ungläubigen. Die häufigste Reaktion ist und bleibt - folgt man dem eigenen Zeugnis des Koran - der Unglaube.

Nach 415 von 575 Seiten ist aber vielleicht auch ein Wort über das angebracht, was der Koran n i c h t enthält und was ich als Christ mehr und mehr vermisse. Das sind vor allen Dingen die vielen grundlegenden Berichte der Bibel über das Handeln Gottes an den Menschen, die der Koran nicht erwähnt oder bewußt anders erzählt als ich sie aus der Bibel kenne.

Ein Beispiel habe ich schon erwähnt - in Sure 28 diskriminiert der Pharao eine "Gruppe" seines Volkes, die er zuvor herausgeteilt und mit einer schlechteren Rolle versehen hat. Es handelt sich um Moses Leute, aber es ist keine Rede von einem besonderen jüdischen Volk, ganz zu schweigen von einem Volk, daß sich Gott erwählt haben könnte. Entsprechend kommt es zu keinem Bundesschluß am Sinai, zu keiner spannungsreichen Geschichte zwischen einem allmächtigen, aber in seinem Erdenhandeln auf ein kleines Nomadenvolk beschränkten Gott, zu keinem Auf und Ab in den teilweise emotionalen Reaktionen Gottes.

Im Koran gibt es die Zehn Gebote nicht. Zwar sagt Herr Öztaş mir, daß der Koran vieles Biblische unausgesprochen enthält und daß der Hinweis auf die neun deutlichen Zeichen, die Gott dem Mose gibt (Sure 17, Vers 103) die Verpflichtung auf alle zehn Gebote mit Ausnahme des Sabbat-Gebotes enthält. Aber gerade das würde ich gerne mit Herrn Öztaş einmal länger besprechen. Ich würde ihn etwa fragen: was ist das Verständnis Gottes ohne einen Anklang an den Rhythmus seiner Schöpferarbeit, diese sechs Tage und dann die Ruhe am siebten?

Oder: was geht nicht alles verloren, wenn man das Gebot unerwähnt läßt, daß der Name Gottes heilig ist? Ich lese mit Ehrfurcht eMails eines israelischen Bekannten, der in Englisch G-d schreibt statt God, leise, still, fast flüsternd. Ich will keinem Moslem vorwerfen, daß er bei Gott schwört. Allah, Wallah, Tallah klingt es durch die orientalischen Abenteuergeschichten meiner Kindheit, aber das Ogottogott meiner eigenen Leute ist auch nicht besser. Da ist etwas verloren gegangen, was man besser bewahrt hätte.

Ich habe versprochen, den Koran mit Ehrfurcht zu lesen, dabei will ich bleiben. Aber nachdem ich drei Viertel gelesen habe, will ich doch auch vorsichtig sagen dürfen, was mir fehlt.

Sonntag, 28. September 2008

Das Herz des Korans

Sure 34: Saba
Sure 35: Die Engel
Sure 36: Ya-Sin



Mohammed hat die 36. Sure Das Herz des Korans genannt. So geht es aus einem der unzähligen Hadithe des Korans hervor, das sind zusätzliche Überlieferungen und spätere Auslegungen, die alle zusammen die Sammlung der Sunna ergeben. Ein weiteres Hadith empfiehlt es, diese Sure Sterbenden vorzulesen. Hinter beiden Aussagen steckt offenbar der Gedanke, daß diese Sure eine stärkende Wirkung hat, daß sie in besonderer Weise geeignet ist, bei Lebenden die träge Unentschlossenheit zu überwinden und Sterbenden die Kraft zum Weg ins Jenseits zu geben.

Die Sure wiederholt dann auch entsprechend alle Aussagen über das Wesen des Glaubens, die dem Leser bereits in ähnlicher Form, aber verstreut über unterschiedliche Passagen, in den 35 Suren zuvor vertraut gemacht worden sind. Es sind, in meinen eigenen Worten:

- die Menschen sind von Natur aus nicht geneigt, dem Wort Gottes Folge zu leisten,

- ihnen werden die Worte des Propheten als Warnung gegeben; sie reagieren aber aggressiv und bedrohen immer wieder die zu ihnen gesandten Propheten,

- der Gläubige dagegen sagt: Gott hat mich geschaffen, zu ihm kehre ich zurück, niemand außer ihm, dem Erbarmer, kann mir wirksam helfen, deshalb glaube ich; diesem Gläubigen wird Vergebung zuteil,

- Gott hat allen Menschen Zeichen gegeben, die auf sein Wirken hinweisen: er läßt Pflanzen aus der Erde sprießen, führt Sonne und Monde geordnet herauf, ermöglicht den Schiffen einen Weg über das Meer und erschafft die Tiere zum Nutzen des Menschen.

In der zweiten Hälfte der Sure wird das Weltgericht am Ende der Zeiten in Worten beschrieben, die den Worten der Bibel ähnlich sind - der Posaunenstoß, das Öffnen der Gräber, der Lohn guter und böser Taten, Paradies für die einen, ewiges Feuer für die anderen.

Der Prophet soll alles dies immer wieder in nüchternen, verständlichen Worten sagen, deshalb heißt es: und nicht lehrten wir ihn Posie (Sure 36, Vers 69). Die Moslems erfreuen sich vor dem Hintergrund dieser Worte vielleicht besonders daran, daß der Koran am Ende trotzdem ein Werk von großer poetischer Kraft geworden ist, wie die Kenner seiner Sprache immer wieder hervorheben.

Der Prophet soll sich - auch das ein wiederholt im Koran vorkommendes Anliegen - nach allem nicht betrüben, wenn er Widerstand erfährt (Vers 76). Er soll sich an dem Gott freuen, der groß und strahlend über dem Ende der Sure steht: der Schöpfer des Himmels und der Erde, der ins Sein rufende, und der, über den es mit den letzten Worten der Sure heißt: Zu ihm kehrt ihr zurück.

Wer einen Eindruck vom Klang der Sure 36 haben will, kann die ersten Verse in YouTube von einer bezaubernden Kinderstimme rezitiert hören. Bismi Allahi kann man zu Beginn verstehen, im Namen Gottes, und Ya-Sin, den Titel der Sure, der aus den beiden der Sure vorangestellten Buchstaben I und S besteht, über deren Bedeutung die Hadithe unterschiedliche Erklärungen haben. Ich danke Herrn Öztaş herzlich für den Hinweis auf dieses Video.

Eine kleine Beobachtung am Rande: die Sure 36 enthält, anders als die meisten Suren vor ihr, nur eine einzige kurze Erwähnung einer älteren Prophetenhandlung. Diese spielt sich in der Stadt ab (Vers 12), deren Name nicht genannt wird. Die traditionelle Annahme, die heute aber wohl wieder verworfen wird, sagte, gemeint sei Antiochien*, die Hauptstadt der Römischen Provinz Syrien, beherrschende Stadt des östlichen Mittelmeers im Altertum.

In die Stadt kommen zwei Prediger, die - wenn es tatsächlich Antiochien ist - nur christliche Prediger sein können, sie werden abgelehnt und mit dem Tode bedroht. Überraschend kommt aber dann ein Mann vom Ende der Stadt gelaufen (Vers 19), der die Botschaft der Prediger bestätigt und in einfachen, klassischen Worten das sagt, was ein Glaubender zum Ausweis seines Glaubens sagen muß. Ihm wird sogleich gesagt, geh ein ins Paradies (Vers 25). Er ist der Held dieser Sure, und sein klares Bekenntnis ist sicherlich das Herzstück des Herzens des Koran.

Die Auslegung mit Antiochien gefällt mir aus einem persönlichen Grund: Antiochien ist nach biblischer Überlieferung (Apostelgeschichte 11,26) die Stadt, in welcher die junge Bewegung der Jesus-Nachfolger einen neuen griechischen Namen bekommen hat. Dieser Name bedeutet wörtlich "Die Salber", weil die Jesus-Leute von Jesus als dem "Gesalbten" sprachen. Die Salber bekamen einen Namen, der vielleicht spöttisch klingen sollte, der aber wenig später als Markennamen um die Welt ging und nebenbei auch Grundlage für meinen Vornamen wurde: Χριστιανούς, Christianous, Christen.

* heute Antakya in der Türkei

Donnerstag, 25. September 2008

Häusliche Querelen

Sure 33: Die Verbündeten

In dieser Sure besteht offenbar Klärungsbedarf, nach einigen Querelen im Hause des Propheten . Erneut wird er für etwas angegriffen, gegen das er sich verteidigen muss, diesmal im Zusammenhang mit seinen vielfältigen Ehen.

Er hat die geschiedene Frau seines adoptierten Sklaven Seid geheiratet, das war nach altem Recht nicht gestattet, so daß die Sure hier neues Recht schaffen muß. Sie tut das, indem sie gleichzeitig eine Reihe von neuen Regeln aufstellt, die ab jetzt für den Hausstaat des Propheten gelten sollen – etwa das Gebot, nicht einfach ohne Einladung sein Haus zu betreten, und das Gebot, nach dem Besuch dort still und ruhig auseinanderzugehen. Es ist nach allem ein Haus eines Fürsten, in welchem man sich dezenter verhält als in den Häusern von Bürgern.

Mohammed darf bis zu einer bestimmten Grenze weitere Ehen eingehen, und darf aus bestehenden Ehen auch wieder Frauen entlassen. Seine Frauen gelten allerdings, auch wenn sie entlassen worden sind, als Mütter der Gläubigen (Vers 6) und sind als solche nicht mehr berechtigt, erneut zu heiraten.

Das alles kann man mit etwas Fantasie für ältere Kulturen, in denen es die Polygamie gab, sicherlich verstehen und einordnen. Was allerdings als Frage übrig bleibt, ist, ob ein realistisches Bild vom menschlichen Auf und Ab im Leben des Propheten nicht angemessener wäre als das ewig schöne und ewig tugendhafte Bild, an dem die Moslems festhalten. Friede sei allezeit mit dem Propheten! Aber war er nicht am Ende doch - ein Mensch?

In Sure 27 gab es ja die Stelle, wo ein etwas unfreundliches Auftreten des Propheten Salomon gegenüber einer kleinen Ameise ganz offenbar aus der Geschichte „geschnitten“ wurde. Propheten sind zur Kreatur nicht unfreundlich, das soll dieser Schnitt verdeutlichen.

Propheten sind auch zu ihren Gattinnen nicht unfreundlich, selbst wenn es viele sind und die Liebe zu der einen oder anderen erkaltet sein mag. Das will ich gerne akzeptieren und insofern in Frieden mit meinen moslemischen Nächsten leben.

Ich denke aber, daß ich mein Verständnis meiner eigenen christlichen Propheten ebenfalls offenlege sollte. Auch das dient ja dem Frieden. Bei uns haben die Propheten häufig ein wenig Dreck am Stecken, und unsere Verehrung baut eher darauf, daß sie mitten in ihrer eigenen Unvollkommenheit eine göttliche Wahrheit über ihrem Leben gefunden haben.

Es gibt im Koran, sagt Herr Öztaş in seinem Kommentar zu Sure 28, keine Widersprüche zur Geschichte oder Wissenschaft. Aber es gibt Stellen, die ausgelassen werden, damit ein Bild eindeutiger und sozusagen runder wird – wie das Bild des Salomo / Suleiman in Sure 27.

Übrigens hat Herr Öztaş einen wunderbaren Kommentar zu Sure 18 geschrieben, in dem er das mystische Sehen von geheimnisvollen Lichtgestalten beschreibt. Sie werden uns nicht direkt präsentiert, sondern wie hinter einem Vorhang. Hier bin ich wieder ganz bei Nureddin Öztaş (sein Vorname ist ein Programm, mir nur, dem Licht, und din, der Religion) – aber zwischendrin, da wo man noch nicht so weit ist, den mystischen Blick zu entwickeln, zwischendrin – mit welchen Augen liest man da?

Dienstag, 23. September 2008

Volksweisheiten

Sure 30: Die Römer
Sure 31: Luqman
Sure 32: Die Anbetung

Unter den vielen Zeugen, die schon vor der Zeit Mohammeds den richtigen Glauben erkannt und angenommen hatten, ist Luqman, der weise Spruchdichter, vielleicht der redegewandteste von allen. Später, im Mittelalter, wuchs sein Ruhm noch weiter, und es wurden ihm Fabeln zugeschrieben, die auf den Griechen Äsop (um 600 v. Chr.) zurückgehen, weshalb ihn mein Koran in der Fußnote mit Äsop gleichsetzt. Das dürfte ein wenig weit hergeholt sein, aber er war auf jeden Fall bereits eine bekannte historische Person, als der Koran entstand.

Es könnte also eine Lebensweisheit aus vorkoranischer Zeit sein, die Luqman in einem Gespräch mit seinem kleinen Sohn weitergibt, von dem Sure 31 erzählt. Es ist eine Weisheit, die im Islam (sagt Wikipedia) als allgemeine Ermahnung und als guter Rat für junge Leute weit verbreitet ist. Sicherlich dürfen Luqmans Worte auch in anderen Kulturen und anderen Religionen beherzigt werden: Halte das rechte Maß in deinem Gang und sänftige deine Stimme. Siehe, die unangenehmste Stimme ist die der Esel. (Sure 31, 18)

Angesichts vieler lärmender Hoffärtigkeit in der heutigen Welt möchte man diesen Ayat nachts heimlich mit der Sprayflasche auf viele Häuserwände schreiben.

Auch Goethe, der sich im Alter dem Islam angenähert hat, kannte Luqman (als Lokman) und hat im West-östlichen Divan über ihn gedichet. Ich schweife etwas ab, wenn ich die Begeisterung manche Moslems dämpfe, die Goethe zu einem Glaubensgenossen machen wollen. So wie man den alten Meisterdichter kennt, hat er außer an sich selbst kaum von ganzem Herzen an ein anderes höheres Wesen geglaubt. Außerdem ist der "Divan" ein vertracktes Spiel, mit dem der damals 70jährige sich die Zuneigung der Marianne von Willemer erobern wollte, das macht ihn als Glaubensbekenntnis zusätzlich fragwürdig.

Zwei Zitate aus dem Divan, das erste zu Luqman / Lokman:

Was brachte Lokman nicht hervor,
den man den Garst'gen hieß!
Die Süßigkeit liegt nicht im Rohr,
der Zucker, der ist süß.

Und ein berühmtes Wort, das auch im "Divan" steht, der eine Sammlung ist:

Getretner Quark
wird breit, nicht stark.

Ich lese letzteres als eine an mich ergehende Mahnung, mich nächstens kürzer zu fassen.

Montag, 22. September 2008

Was ist wirklich geschehen?

Sure 28: Die Geschichte
Sure 29: Die Spinne

Wir verlesen dir etwas von der Geschichte Moses und Pharaos der Wahrbeit gemäß für ein gläubig Volk. So steht es am Anfang der Sure 28 in Vers 2.

Wem die häufige Nennung des Mose im Koran auffällt, der kann in der Suchmaschine von Serchtruth bestätigt finden, daß er tatsächlich in 134 Versen des Korans vorkommt, überwiegend in den ersten 40 Suren. Abraham folgt mit 80 Versen, Noah mit 56, dann Maria und Jesus. Die Geschichten von Mose haben meistens einerseits einen festen, immer gleichen Kern - die Gegenüberstellung mit dem Pharao, die beiden Wunder mit Stock und Schlange und der plötzlich aussätzigen Hand - und andererseits eine Fülle von Varianten in Bezug auf den Blickwinkel, aus dem die Geschichte erzählt wird.

In Sure 28 wird ausführlich die Geburt und Kindheit des Mose erzählt, seine Aussetzung im Nil, seine Erziehung am Hof des Pharao. Ich kann mir vorstellen, daß hier Passagen vorkommen, denen man in der Moschee sitzend gerne zuhört, es wird teilweise sehr lebendig erzählt. Der Koran verfügt, wenn man es rein historisch betrachtet, offenbar über andere Quellen als das Alte Testament und bringt neue Farben in die alten Bilder, erzählt bekannte Geschichten anders.

Eine der einschneidensten Änderungen findet sich gleich zu Beginn der Sure, wo in Vers 3 gesagt wird: Siehe, Pharao war hoffärtig im Land und machte sein Volk zu Parteien; einen Teil davon schwächte er, indem er ihre Söhne schlachtete und nur die Mädchen leben ließ. Andere Übersetzungen sagen "Gruppen" oder "Sektionen", es ist jedenfalls klar, daß hier kein jüdisches Fremdvolk unter den Ägyptern lebt, gar nicht zu reden von einem auserwählten Volk mit einer besonderen Gottesoffenbarung.

Das wäre also die Wahrheit des Koran, eine andere Wahrheit als die der Bibel. Dort bemüht sich ein mit Namen genannter Stammesgott JA oder JHWH darum, seinem kleinen Volk beizustehen, es aus Ägypten zu führen, ihm eine ethische Grundordnung zu geben und ihm später einmal das Leben in einem Land zu ermöglichen, in dem Milch und Honig fließt (2. Mose 3,8). Auch er nennt sich mit vollem Recht Allah, Elohim, Gott, denn er hat die Welt erschaffen. Er hat sich aber zu seinem Dienst und zu seiner Ehre nur ein einziges, mit ansonsten keinen Vorzügen gesegnetes Volk erwählt und den anderen Völkern seine Barmherzigkeit dadurch unzugänglich gemacht.

Die Propheten des JHWH verkünden allerdings eine Ahnung davon, daß Gott sich eines Tages auch so offenbaren wird, daß alle Menschen ihn anbeten können. Als dann in Jesus diese Öffnung real möglich wird, spaltet sich das Judentum auf - in einen messianischen Flügel (die Christen) und einen Flügel, der die sozusagen internationale Ausweitung des JHWH-Glaubens erst in der Zukunft erwartet und "exklusiv" jüdisch bleibt.

Der Koran erzählt die Geschichte anders. Der Gott, der schon den Stammvater Abraham, viele Generationen vor Mose, zu einem gläubigen Moslem gemacht hat, unterscheidet nicht nach Juden und anderen Völkern. Er wählt sich Propheten aus, die allen Menschen sagen, daß Gott nur einer ist, daß man das Gebet verrichten, die Armenspende geben und im Bewußtsein leben soll, daß es eines Tages eine Heimkehr zu Gott geben wird - unterschiedslos für alle.

Im Reden des moslemischen Propheten Mose mit dem skeptischen, ungläubigen Pharao wird wieder - ähnlich wie im Beispiel der Ameise aus Sure 27 - eine komplizierte menschliche Geschichte durch eine Auslassung vereinfacht. Ein Prophet (wie Salomo) hat keine menschlichen Schwächen, die ihn verächtlich mit einer Kreatur sprechen lassen würden. Ein Gott (wie der Gott des Koran) hat keine wechselvolle Geschichte mit einem zweit- oder drittklassigen Volk, in dem immer wieder seine eigene Ehre (Gottes Ehre!) auf dem Spiel steht.

Sollte man diese Gegensätze so stehen lassen und dem einen Teil der Menschen erlauben, an einen sozusagen dialektischen, ja widersprüchlichen Gott zu glauben und dem anderen Teil seinen in sich geschlossenen, undialektischen Gott lassen? Ich fürchte, daß das zu einfach ist und möchte die Frage deshalb zunächst so nicht stellen.

Aber was macht der Koran, wenn sich seine Darstellung als falsch erweist? Schon das Beispiel der Ameisen-Geschichte enthält eine offenkundige Kürzung und Schönung. Das Beispiel des Mose-Volkes enthält ebenfalls Korrekturen, die nicht stimmen können - etwa die Erwähnung des Haman (Vers 5), der in die Geschichte der Königin Esther gehört, Jahrhunderte später spielend. Wie lebt man damit und glaubt, wenn die "äußere" Wahrheit, der wirkliche Verlauf der Geschichte so offenkundig gegen den eigenen Glauben steht?